: Viel Spaß is over
Ihr werdet alle Schnittchenschmierer und Sitzpinkler sein: Leander Haußmann, der Prinz of Theaterpop, verabschiedet sich mit „Peter Pan“ als Intendant vom Schauspielhaus in Bochum
von ELKE BUHR
„Gestern: Amphitryon ... kann nichts verstehen, bumsen, etc. War es womöglich POP?“ (Zuschauerbrief ans Bochumer Schauspielhaus, 1995)
Jetzt hat er sein Musical doch noch bekommen. Als Leander Haußmann 1995 die Worte „Viel Spaß“ auf seine Fahnen schrieb und damit das Bochumer Schauspielhaus unversehens aus der Postbetroffenheitskultur mitten in die 90er-Jahre katapultierte, kündigte er gleichzeitig eine „Zauberflöte“ an – mit großem Orchester, als große Party. Das Mozart-Projekt scheiterte an der maroden Technik des Hauses: Der Bochumer Magistrat wollte die notwendige Renovierung nicht bezahlen. Statt Mozart also, fünf Jahre später, noch mal ein bisschen Pop: „Peter Pan“ mit Musik von Element of Crime, die letzte Tat in Haußmanns fünfter und letzter Spielzeit. Eine Inszenierung, die ein Theatermärchen sein will und sonst nichts; mit Windmaschine auf der Bühne, verwegen johlenden Gestalten auf schwankenden Schiffsbohlen und einer bunten Puppenstube als Kinderzimmer.
Man kommt nicht umhin, das hundert Jahre alte Stück von Sir James Matthew Barries über den Jungen, der bei den Feen, Seeräubern und Indianern in „Neverland“ lebt, als letzte Botschaft des Prinzipals Haußmann an sein nostalgisch gestimmtes Theatervolk zu lesen. „Jetzt ist der Unsinn bald vorbei, das war auch allerhöchste Zeit“, singt Margit Carstensen als cooler Kapitän Haken, bevor sie tödlich verwundet verschwindet – im Maul eines riesigen Pappmaché-Krokodils. Und während der Saal noch kichert, wird der Song zu einer melancholischen Drohung an alle die, die dem sensiblen Intendantenkind in den letzten Jahren die eine oder andere Wunde zugefügt haben: „Schau her, ich blute wie ein Schwein; ist mir egal, du tust mir leid. Du wirst ein Schnittchenschmierer sein, mein Freund, wenn ich mal nicht mehr da bin.“
Schnittchenschmierer, Tierfilmgucker, Sitzpinkler: So beschimpft der Songtext die Langweiler, die erwachsen werden. Das dazugehörige rite de passage ist einem Splatter-Film entliehen. Als Peter Pan schlägt sich Annika Kuhl die Hand ab, um damit ihre Entscheidung zu bekräftigen, das Kinderdasein aufzugeben, und steht bis zum Ende des Stücks mit blutig hängenden Sehnenfetzen da.
Doch schon vorher ist Peter Pan ein trauriger Aussteiger. Von Mal zu Mal klingt es schriller, wenn Annika Kuhl kreischt: „Ich will ein kleiner Junge sein, der immer lustig ist!“ Der bunte Popsickle dieser romantischen Abschiedsinszenierung schmeckt auch bitter. Man habe die Aufführungen in Bochum immer als Teil der Popkultur empfunden, hat Haußmann mehr als einmal gesagt. Auch wenn man dem erklärten Feind ästhetischer Manifeste nie ernsthaft abnehmen sollte, was er zu seiner eigenen Programmatik äußert: Nach fünf Jahren Haußmann in Bochum hat man eine Ahnung davon, was ein Theater sein könnte, das keine Angst vor Popkultur hat. Eine der ersten Maßnahmen der Haußmann-Gang war es, nach dem Vorbild Volksbühne die Performance-Möglichkeiten in Richtung Clubkultur wuchern zu lassen: Konzerte in der Keller-Spielstätte „ZadEck“, Themenabende, rauschende Feste.
Auch auf der Bühne wurde mit dem Prinzip Party experimentiert und eine Portion Brüller eingebaut – warum Männer Beine haben? Damit sie nicht immer Sackhüpfen müssen. Das Zauberwort Pop in Richtung „populär“ weiterzudenken, war allerdings genau die Strategie, auf die die bildungsbürgerliche Kritik allergisch reagierte: zu flach. Dabei bot der Spielplan immer auch schwer Verdauliches. Hausregisseur Dimiter Gotscheff liegt mit seinem Ästhetizismus grundsätzlich quer zur Frage nach dem Spaßfaktor. Und wenn Jürgen Kruses Schauspieler ihre Worte endlos wiederkäuen, drehen und wenden, bewegen sich die Aufführungen hart an der Grenze zur Theaterverweigerung.
Auch wenn Kruse sich allzu gern in solche Textdekonstruktion verlor – er war doch Haußmanns wichtigster Verbündeter. Pop auf der Bühne besteht für Haußmann und Kruse nicht nur im antielitären Affekt, sondern beide öffnen ihre Inszenierungen auch für die eigene, mediensozialisierte Wahrnehmung. Weil sie selbst Konsumenten der Popkultur sind, plündern sie deren Zeichenvorrat. Da ist die Liebe zum Trash in den vollgerümpelten Bühnenbildern, da sind die abgerissenen Köpfe und das spritzende Blut, da ist die Lust am Kalauer, die dazu führt, dass ständig irgendjemand ironisch aus der Rolle fällt. Etwa in Jürgen Kruses letzter Inszenierung, „Der Klassenfeind“ von Nigel Williams: Völlig unvermittelt stakst Judith Rosmair als Lara Croft in das abgefuckte Klassenzimmer und ballert, mit perfekter Computeranimationsmotorik, alle widerspenstigen Schüler über den Haufen. Gleichzeitig dröhnt einem der Kopf von irgendeinem obskuren Siebzigerjahre-Punk.
Die Stöhner der Singer/Songwriter von Dylan bis R.E.M, die Langhaar Kruse verehrt, bieten ihm immer wieder überzeugende Kontexte zu den Leiden des bürgerlichen Individuums nach Wedekind oder Hebbel. Jugendliches Aufbegehren, Außenseiter-Posen, Rockertum: Das sind die Konzepte, mit deren Hilfe sich das bürgerliche Trauerspiel kurzschließen lässt mit Jugendkultur als einer genauso idealistischen wie widerspenstigen Rock-Version.
Dabei ist auch Kruses Rock bereits ein historisches Phänomen – kanonisiert und Teil des bürgerlichen Selbstverständnisses wie die Theaterstücke, zu denen er den emotionalen Background liefert. Nicht zuletzt waren es die Kruse-Produktionen, in denen die unvergleichliche Judith Rosmair (in Bochum kursieren T-Shirts, die ihrem Namen huldigen) ihre Version des Theater-Girlies des ausgehenden 20. Jahrhunderts entwickeln konnte. Ob als Luise in „Kabale und Liebe“, als Klara in „Maria Magdalena“ oder schließlich als Gretchen im „Urfaust“: Sie piepst und hüpft in kindlichem Flatterkleid; sie leidet, lässt sich quälen, putzt den Vätern und Liebhabern die Füße mit ihrem langen, braunen Haar – und lässt die Weibchenklischees, die unermüdlich auf sie projiziert werden, an ihrem widerständigen, energiegeladenen Gummikörper zerschellen. Fetisch sein und trotzdem überleben: Das ist das Girlie-Tum der Jetztzeit.
Haußmann und Kruse inszenierten in Bochum in dem Bewusstsein, mit vollen Händen aus der Welt der Pop- und Hochkultur schöpfen zu können. Schon Haußmanns Grußwort „Viel Spaß“ war ein offenes Zeichen, eine Geste, die einlud, sie mit Sinn zu füllen. Stattdessen hat die Kritik das Haus festgenagelt: Kaum war die erste Spielzeit vorbei, galt das Bochumer „Spaßtheater“ als gescheitert. Haußmann, das Kind, war beleidigt: Nie wieder werde er in Deutschland inszenieren. Als Peter Pan auf die Fee Klingklang böse ist, weil sie seine Freundin Wendy mit Pfeilen beschießen ließ, will er nie, nie wieder ihr Freund sein – um sich kurze Zeit später zu verbessern: Na gut, bloß eine Woche lang. Und natürlich wird auch Haußmann weiter Regie führen – zunächst bei Papa Castorf an der Volksbühne. Inzwischen wettert er gegen seinen Nachfolger Matthias Hartmann, der in Bochum das bürgerliche Publikum zurückgewinnen möchte. Haußmann hat Hartmann im echten Leben die Rolle des Strebers gegeben: Schnittchenschmierer, Tierfilmgucker, Sitzpinkler, wie gesagt.
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