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Die Kunst des Ignorierens

DAS SCHLAGLOCHvon MICHAEL RUTSCHKY

„Bichsel zu lesen ist eine Labsal für alle, die als vorsintflutlich gelten, weil sie sich dem Zeitgeist verweigern.“ Hans Jörg Graf über Peter Bichsel: „Alles von mir gelernt. Kolumnen 1995 – 1999“. „Süddeutsche Zeitung“, 26./27. 5. 2000 „Die Kirche lebt den authentischen Glauben vor. Sehen Sie mal, wir haben ein Glaubensbekenntnis, das ist dasselbe wie vor 1.000 Jahren. Reiche sind gekommen und gegangen, alles hat sich verändert außer der katholischen Kirche.“ Bischof Johannes Dyba. taz, 31. 5./1. 6. 2000

Das ist ja ungefähr dasselbe, was der Bischof Dyba von seiner Kirche und der Rezensent Graf von Peter Bichsel behauptet. Sie beziehen sich auf dauerhafte, wenn nicht ewige Wahrheiten jenseits der Zeit. Die Moden kommen und gehen. Bichsels Zeitungskolumnen und die katholische Kirche bleiben bestehen.

Es fällt leicht, an solchen trotzigen Positionen zu rütteln. Eine genauere Betrachtung von Peter Bichsels literarischen Arbeiten und Zeitungsartikeln würde lehren, dass sie halt einem früheren Zeitgeist als dem gegenwärtigen verpflichtet sind. Das ist meist so bei alternden Menschen. Sie halten für ewige Wahrheiten, was in ihrer Jugend Mode war. Das macht seit langem viele Altachtundsechziger peinlich. Eben murkeln sie so lange an der „Globalisierung“ herum, bis sie wie der „US-Imperialismus“ von 1970 ausschaut, und schmähen den jungen Menschen, weil er sich nicht zum massenhaften Protest versammelt. Orthodoxie bildet leicht eine Unterabteilung der Nostalgie.

So steht es vermutlich auch um die katholische Kirche. Sie bleibt einem Zeitgeist verhaftet, der um das Jahr 30 herum in einer kleinen rebellischen und religiös übererregten Region des östlichen Mittelmeers bei den avancierten Kadern in Mode war. Weil seitdem so viel Zeit verging, lässt sich die Übereinstimmung nicht mehr prüfen; vielmehr werden die diversen Anpassungen an den jeweils neuesten Zeitgeist einfach kaschiert. Die Kirche erklärt hunderte von Jahren später, sie habe sich leider damals geirrt. Die Sonne dreht sich nicht um die Erde, und diesbezüglich verbrannte Ketzer gelten ab sofort als rehabilitiert. Entschuldigung! Um an der Ewigkeit des eigenen Glaubensbekenntnisses, der eigenen Orthodoxie festzuhalten, erklärt man einfach gewisse unhaltbare Unwahrheiten für peripher. Die Revision betrifft nur Nebensächliches; woran die Kirche jetzt festhält, das ist der Kern – auch wenn davon demnächst gewisse Teile wiederum revidiert werden müssen. Was die Anhänger der römischen Kirche begeistert, ist wohl weniger eine praktisch-inhaltliche Orthodoxie als die Sehnsucht nach einer solchen.

Andererseits – und dies wollen Sie bitte als einen richtigen Schnitt betrachten –, andererseits kann ich das gut verstehen, den Wunsch nach Positionen jenseits des Zeitgeistes, wie er auch Bichsel und seinen Rezensenten erfüllt. Mich plagt es zunehmend mit schwerer Unlust, dass ich mich andauernd der Gegenwart in ihrer Totalität stellen soll.

Haben Sie Reich-Ranickis Autobiografie gelesen? Nö. Das sollten Sie aber. Da gibt es wirklich wunderbare Kapitel.

Und was halten Sie von Houllebecq? Les’ ich nich’. Das sollten Sie aber. Seine Spekulationen über die Zerstörung der Sexualität durch den Markt haben einiges für sich. Sie beschäftigen sich eher mit der Theorie? Was Sloterdijk über den Menschenpark sagt? Sloterdijk is’ kein Theoretiker. Aber das sind doch äußerst wichtige Zukunftsfragen!? Gentechnologie is’ mir schnurz.

Und was halten Sie von Rezzo Schlauchs Apologie des Autos? Wie die Grünen wieder mal eine Position aufweichen, bloß der Teilhabe an der Regierungsmacht willen? – Nun, hier kann ich zur Abwechslung mal im Brustton antworten: Ich bin immer gern Auto gefahren, und ich halte die orthodoxe grüne Position seit langem für volksfeindlich. Es käme darauf an, das Auto als kulturelle Errungenschaft der Massen zu explorieren.

Doch haben wir so das Problem nicht gelöst. Wenn man bei drei von vier brennenden Zeitfragen seine Ignoranz eingestehen muss, werden die Kunstregeln dieses Ignorierens zum Problem.

Das bichselartige Jenseits des Zeitgeistes, wo sich kurzfristig langfristige Perspektiven ergeben sollen, halte ich für Illusion; Bischof Dybas Orthodoxie dürfte sich leicht als hermeneutische Hütchenspielerei dekonstruieren lassen. Wie soll die Kunst des Ignorierens also verfahren, wenn sie sich nicht auf Orthodoxien beziehen kann, die Wahrheit jenseits der Zeit garantieren?

Eine erste plausible Unterscheidung bleibt vermutlich die zwischen Kenntnis und Meinung. Was auch immer Sloterdijk in seinem metapherngesteuerten Wortschwall über Menschenzüchtung verlautbart, da ich von der Hauptsache – Gentechnologie – keine Ahnung habe, kann ich mir zur Nebensache – Sloterdijk – jede Meinung ersparen. Die Kunst des Ignorierens wird den Garten der eigenen Kenntnisse kultivieren und triebhaft drängende Meinungen über das Geschehen hinter jenen Bergen unter Kontrolle halten. Dies ist ein Modell. Es klärt zugleich, wieso Sloterdijk ebenso wenig wie Durs Grünbein fruchtbar über Evolutionsbiologie sprechen kann. Ihnen fehlen die Kenntnisse; sie haben bloß (mehr-minder elaborierte) Meinungen.

Sodann darf sich die Kunst des Ignorierens an die Irrtümer halten, denen man selber mal angehangen hat und die man revidieren musste. Ganz unabhängig davon, dass Houllebecq schon im Lichte der Unterscheidung Kenntnis/Meinung schlecht aussieht – als seinerzeit fanatischer Leser von Marcuse und Wilhelm Reich weiß ich inzwischen, dass sich aus der persönlichen Sexualität nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse rückschließen lässt. Wenn es seinerzeit Dieter Kunzelmann misslang, seine Orgasmusschwierigkeiten dem Spätkapitalismus anzukreiden, warum sollte Houllebecq damit 30 Jahre später Erfolg haben? Der Irrtum lag im Totalisieren. Die Kunst des Ignorierens muss immer wieder Zusammenhänge leugnen, zerschneiden oder sogar umkehren.

Drittens muss die Kunst des Ignorierens streng beachten, dass sie sich nicht zu viele Vorgaben von den Gegnern machen lässt. Kürzlich konnte ich einen ehrwürdigen alten Linksradikalen verblüffen. Dass ich die einschlägige Sektenpresse ignoriere, der er immer noch seine Offenbarungen entnimmt, wunderte ihn wenig; ohnehin bin ich Renegat. Aber als ich frei bekannte, dass ich die FAZ nicht lese und also über die neuesten Machinationen vor allem des Herausgebers Schirrmacher komplett uninformiert bin, da war er wirklich erschüttert. Die FAZ offenbart ihm und seinesgleichen jeden Morgen die Welt, deren Gegner zu bleiben er so stolz ist. Es könnte sein, dass Jürgen Habermas diese strategische Lektüre der FAZ eingeführt hat. Ich halte das für einen historischen Irrtum, den wir revidieren sollten.

Dies waren nur ein paar Vorschläge zur Kunst des Ignorierens, die ihrer Ausbildung bedarf, wenn auf Orthodoxie verzichtet werden muss, ob sie nun bichselartig oder mehr à la Dyba daherkommt. Und wenn der Zeitgenosse und Zeitungsleser eingestehen muss, dass er einfach nicht mitkommt bei den vielen Gegenwartsthemen, zu denen er eine Meinung entwickeln sollte. Vielleicht haben Sie bessere Vorschläge?

Hinweise:Was halten Sie von Houllebecqs Spekulationen über Sexualität? Les` ich nich`!Die Kunst des Ignorierens wird den Garten der eigenen Kenntnisse pflegen

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