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die angst des engländers vorm elfmeter

von RALF SOTSCHECK

Er werde nur einmal im Leben 50, behauptete Chris. Das war zwar schon vor einer Woche, aber sein Geburtstagsfest legte er auf vorigen Samstag. Pünktlich zum Anpfiff des Spiels England gegen Deutschland gab Chris den Startschuss für seine Party. Die beiden Länder träfen ja bei jedem Turnier aufeinander, meinte er, und im Übrigen interessiere er sich nicht für Fußball.

Das Fest fand im Druid’s Chair statt, einer Kneipe in Killiney im vornehmen Dubliner Süden. Jürgen, der aus Berlin angereist kam, weil er als Diskjockey angeheuert war, wurde wegen seines suspekten Musikgeschmacks kurzerhand von Chris zum einfachen Gast degradiert. Deshalb boykottierte Jürgen den Tanz, zu dem ein Profi-DJ mit grauenhafter Musik aus verblichenen Louis-de-Funes- Filmen vergeblich animieren wollte, und leitete statt dessen die Suche nach dem Fußball-Fernseher.

Im unteren Stockwerk, in der Bar, gab es davon zwei Stück, das hatte Jürgen schnell herausgefunden, was nicht weiter schwer war, weil hundert Iren anti-englische Schlachtgesänge intonierten, die vermutlich bis ins benachbarte Liverpool zu hören waren. Dass es nichts half, wissen wir inzwischen, aber es ist schon erstaunlich, wieviel Angst die Engländer vor dem geriatrischen deutschen Team hatten. Das Trauma, das sich bei Englands Medien festgesetzt hatte, war das Elfmeterschießen. Bei den letzten drei großen Turnieren waren sie dabei ausgeschieden, zweimal gegen die Deutschen. Gareth Southgate war der Unglücksrabe bei den Europameisterschaft vor vier Jahren. Er wusste, das war von seinem Gesicht nach dem versiebten Elfer abzulesen, dass sein Leben fortan monothematisch verlaufen würde. „Herr Southgate“, wird er seither vor jedem Spiel gefragt, oder familiärer: „Gareth, wirst du heute wieder einen Strafstoß schießen?“ Sogar seine eigene Mutter ist ihm damals in den Rücken gefallen. „Der Junge hätte einfach härter schießen müssen“, tadelte sie ihn.

Ich hatte das Spiel 1996 bei zukünftigen Ex-Freunden in London gesehen. Der Abend verlief harmonisch – bis zu Southgates Patzer. Ich versuchte meinen damaligen Freund John, eigentlich ein besonnener Mensch, zu beruhigen: „Möller verschießt bestimmt.“ Tat er aber nicht. England hatte verloren, und John versank in eine tiefe Depression, erholte sich aber nach einem Wasserglas Whiskey rasch und brüllte mich an: „Und wer hat den verdammten Krieg gewonnen?“

Dann schleppte er mich in den Club der Royal British Legion, alles Ex-Soldaten, die noch älter waren, als es selbst Lothar Matthäus je sein wird, und die sich an den Krieg gut erinnern konnten. Ich sprach den ganzen Abend mit dem breitesten irischen Akzent, der mir zur Verfügung stand, aber ich musste sämtliche Getränke bezahlen. John hatte angedroht, er würde mich andernfalls als Deutschen outen. Nach dem Spiel vorgestern kann ich mich, falls ich das wirklich möchte, angstfrei in den britischen Legionärsclub wagen. Teamchef Erich Ribbeck auch. Er bekommt Freibier aus dem Mitleid-Fonds für die erbarmungswürdigsten Gegner des Jahres.

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