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„Zellen des Widerspruchs“

Anlässlich der Verhaftungen mutmaßlicher Mitglieder der Revolutionären Zellen streitet die radikale Linke über die Thematisierung der eigenen Geschichte. Dabei geht es auch um „Denkverbote“

von HERMANN PFLEIDERER

„Das sind doch Denkverbote“ ruft eine Frau durch das mit etwa 250 BesucherInnen gut gefüllte Kreuzberger Kato, in dem gerade eine Solidaritätsveranstaltung für die seit über einem halben Jahr Inhaftierten stattfindet, die angeblich Mitglieder der Revolutionären Zellen gewesen sein sollen. Die Frau hatte selbst jahrelang als RAF-Mitglied im Gefängnis gesessen, ihr dürften „Denkverbote“ nicht unbekannt sein. Ihre Wut richtet sich gegen einen Beitrag, den eine Anwältin vorträgt. Die Verteidigerin Silke Studzinsky versucht im Namen der gesamten Verteidigung der Szene zu erklären, worüber nicht geredet werden soll: über den genauen Inhalt der von Tarek M. gegenüber der Bundesanwaltschaft (BAW) über Personen und Aktionen der RZ zu Papier gebrachten Aussagen.

Weiter führt die Anwältin aus, dass „jedes öffentliche Nachdenken über die persönlichen und politischen Beweggründe von Tarek M., Aussagen bei der BAW zu machen, indirekt der Ermittlungsarbeit der BAW in die Hände arbeitet“. Ihre Ausführungen gipfeln in dem Satz, dass „jeder, der Tarek M. einen Verräter nennt, doch implizit unterstellt, dass er überhaupt etwas zu verraten habe“. Bei etwa der Hälfte der ZuhörerInnen erntet sie dafür Beifall, von der anderen Hälfte nur Kopfschütteln.

Seit der Durchsuchung des Mehringhofs im Dezember vergangenen Jahres und der Verhaftung von inzwischen sechs Beschuldigten als angeblich an RZ-Aktionen Beteiligte glaubt sich die BAW ihrem Ziel ein wenig näher, doch noch einen von ihr seit zwanzig Jahren nicht aufgeklärten Teil linker Geschichte juristisch aufrollen zu können. Bedingt durch die unfreiwillige Konfrontation mit einem innerlich längst abgeschlossenen Kapitel tobt nun in der linken Berliner Szene seit Monaten ein Streit um die „richtige“ Ausrichtung der Solidaritätsarbeit. Nicht wenige möchten sich mit den Aktionen und politischen Anliegen der RZ, mit ihren positiven wie negativen Aspekten, als Teil der eigenen linken Geschichte offensiv auseinander setzen. Und zwar bevor es im Focus zu lesen ist. Überraschenderweise ist dies in Städten wie Köln möglich, in Berlin aber nicht.

Wiederholt ist in autonomen Publikationen gefordert worden, mindestens ansatzweise den Inhalt und Umfang der Aussagen von Tarek M. publik zu machen und die politische Dimension zu benennen, um die es in dem anstehenden Verfahren gehen wird. Auch sollte zwischen persönlicher Betroffenheit, juristischer Unterstützung und politischer Solidarität klarer unterschieden und die Bereiche entsprechend voneinander getrennt werden.

Durch die Übergewichtung des juristischen Aspektes fühlen sich einige UnterstützerInnen vor den Kopf gestoßen. Sie teilen die Befürchtung der Verteidigung nicht, dass „je öffentlicher Dinge gehandhabt werden, desto mehr über sie gesprochen und fantasiert“ würde. Vielmehr gediehen nirgendwo Gerüchte und Spekulationen besser, als wenn über etwas nicht öffentlich geredet werden darf.

Allerdings wurde inzwischen wenigstens die Vorgeschichte zur Durchsuchung des Mehringhofs bekannt. Im März 1995 fanden Jugendliche auf einer Einbruchstour in einem Keller in der Schönhauser Allee im Berliner Prenzlauer Berg zufällig einige Stangen des gewerblichen Sprengstoffs Gelamon 40. Beim Versuch, diesen zu verkaufen, bekam es der potenzielle Käufer mit der Angst zu tun und meldete die Jugendlichen der Polizei. Gegenüber dieser behaupten die Jugendlichen, den Sprengstoff in einem Park gefunden zu haben.

Angeblich erst im März 1998 gelang es dem BKA mittels chemischer Analyse, den Sprengstoff als eine Teilmenge des von den RZ bei mehreren Anschlägen benutzten Sprengstoffs zu identifizieren. Nach einer erneuten Befragung führten die Jugendlichen die Polizei zu dem Keller. Tarek M. wurde als ein mutmaßlicher Nutzer des von seiner damaligen Lebensgefährtin angemieteten Kellers festgestellt und von Oktober 1998 bis Mai 1999 auf allen von ihm benutzten Telefonen überwacht.

Am 14. April 1999 fand bei Tarek M. eine Hausdurchsuchung wegen des Vorwurfs der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung statt. Da die chemische Spurensicherung keine Rückstände von Sprengstoff in dem Keller feststellen konnte, wurde er wieder freigelassen.

Mitte Mai 1999 wurde Tarek M. überraschenderweise erneut festgenommen. Der Haftbefehl wurde nun mit einer Auswertung der Telefonüberwachung und einigen bei der Durchsuchung seiner Wohnung beschlagnahmten Dingen begründet. Knapp zwei Monate später räumte Tarek M. bei einem Haftprüfungstermin ein, Sprengstoff in dem Keller gelagert zu haben. Weiteren von den Jugendlichen nicht mitgenommenen Sprengstoff will er in einem Wassergraben außerhalb Berlins versenkt haben. Zu diesem Zeitpunkt belastet er keine weiteren Personen. Der Haftbefehl wird außer Vollzug gesetzt.

Anfang November 1999 wurden jedoch insgesamt acht Wohnungen und Arbeitsstätten von Tarek M. sowie von angeblichen Bekannten durchsucht. Am 23. November wurde Tarek M. erneut festgenommen. Nun belastete ihn seine frühere, in Ostberlin aufgewachsene Lebensgefährtin schwer. Laut ihrer Aussage gegenüber der Polizei soll Tarek M. von Anfang 1986 bis 1996 einer der führenden Köpfe der Berliner RZ gewesen sein. Außerdem soll er ihr gegenüber angegeben haben, dass er an den beiden Knieschuss-Attentaten auf den Chef der Berliner Ausländerbehörden, Harald Hollenberg, und den Richter am Bundesverwaltungsgericht, Günter Korbmacher, beteiligt gewesen sei und selbst geschossen habe.

Von der BAW vor die Wahl gestellt, möglicherweise zu bis zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt zu werden oder von der Kronzeugenregelung Gebrauch zu machen, entschied sich Tarek M. nach einigen Tagen Bedenkzeit für das Angebot der BAW.

So wurden am 19. 12. 1999 die beiden Berliner Axel H. und Harald G. sowie die Frankfurterin Sabine E. als angebliche MittäterInnen auf Grund seiner Aussagen verhaftet. Rudolf S., den Tarek M. ebenfalls belastet, sitzt wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum OPEC-Überfall 1975 bereits seit einigen Monaten im Gefängnis. Gleichzeitig durchsuchten fast 1.000 Polizisten den Mehringhof als angebliches Waffen- und Sprengstoffdepot der RZ. Gefunden wurde nichts.

Von Anfang Januar bis Ende Mai diesen Jahres wurde Tarek M. fast täglich vom BKA verhört. Dabei hat er einige Angaben vom letzten Jahr korrigiert, die schließlich am 4. Februar diesen Jahres zu einem erweiterten Haftbefehl gegen Axel H. führten. Insbesondere beschuldigt er nun mehrere Personen, am Anschlag auf die Siegessäule im Januar 1991 beteiligt gewesen zu sein. Dies führte Mitte April zur Verhaftung von Matthias B., einem leitenden Mitarbeiter der Technischen Universität. Außerdem wurde am 18. Mai in Yellowknife, Kanada, Lothar E. verhaftet, der Ende der Achtzigerjahre ebenfalls wie Axel H. als Hausmeister im Mehringhof beschäftigt war.

Sicher nicht die letzte Aktion der BAW in diesem Zusammenhang war am 30. Mai eine zweite Durchsuchung des Mehringhofs, bei der nochmals nach dem angeblichen Sprengstoffversteck gesucht wurde. Tarek M. wurde als „Spürhund“ mittels Videokonferenz zugeschaltet.

Mit einer Anklageerhebung gegen die sechs von Tarek M. Beschuldigten ist frühestens im Herbst zu rechnen, ein Prozessbeginn ist nicht vor Januar 2001 zu erwarten. Ungeklärt ist, ob für Tarek M. überhaupt die Kronzeugenregelung gilt, denn im Gesetz heißt es: „ . . . wenn das Wissen über die Tatsachen bis zum 31. 12. 1999 offenbart worden ist“. Tarek M. hat den größten Teil seiner Aussagen erst nach diesem Datum gemacht.

Weder von staatlichen noch von der Szene ausgesprochenen „Denkverboten“ ließ sich der emeritierte Berliner Politologie-Professor Johannes Agnoli auf der Kato-Veranstaltung beeindrucken. Er dachte laut darüber nach, wie aus derzeitigen „Zellen des Widerspruchs“ gegen den Kapitalismus wieder „Zellen des Widerstands“ werden können. Auch mit der Geschichte der revolutionären Zellen setzt sich der Professor trotz des Widerwillens von Teilen der Soli-Szene auseinander. Beim Anschlag auf die Siegessäule bewegte ihn nicht so sehr das „ob“, sondern wie man es – besonders in der politischen Vermittlung – anders und besser hätte machen können.

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