: Geniale Diebe stehlen sich ins Finale
Dank eines Zinedine Zidane auf dem Weg zu immer neuen Stufen der Genialität und fußballerischer Erleuchtung darf Frankreich nach dem 2:1 im EM-Halbfinale gegen Portugal weiter vom zweiten großen Titel in zwei Jahren träumen
aus BrüsselBERND MÜLLENDER
Humberto Coelho brauchte, frisch enttäuscht und ausgeschieden, genau einen Atemzug und zwei Sätze: „Nach zwei Jahren harter Arbeit“ stünden nun „neue Kämpfe“ bevor, also sei es „ein guter Zeitpunkt, Ihnen jetzt zu sagen, dass ich ab Juli nicht mehr portugiesischer Trainer bin“. Und ging ab. Alle staunten. Wir erinnern uns, Erich Ribbeck hatte für seine Demission die vollen zwei Jahre gebraucht.
Aber hier geht es ja auch um richtigen Fußball und um edlen Wein der Extraklasse. Denn im portugiesischen Fußball liebt man den Vergleich mit den Rebfrüchten. „Es braucht Jahre, um zu reifen“, hieß es über die Schönspieler des Juniorenweltmeisterteams von 1989 und 1991. Gewachsen an ihren Aufgaben seien sie unter ausländischer Sonne, die richtige Rebmischung gefunden. Jetzt, die Europameisterschaft, sollte der Moment für die zeitlich ideale Lese sein.
Ausgereift. Ausgekeltert. Ausgetrunken. Ein Spitzenwein, aber nicht der beste. Portugal wird einen neuen Chefwinzer bekommen, und er wird, wie Coelho und seine Vorgänger, einen dicken Schnauzbart tragen. Aber in zwei Jahren, erst recht in vier, wenn die nächste EM in Portugal stattfindet, werden die jetzigen Jahrgänge schon fast im Stadium überreifer Spätlesen sein. Im schlimmsten Fall Eiswein, überzuckertes Alteleutegesöff.
Gegen wen hatten die weinseligen Portugiesen verloren? Gegen das Weinland Frankreich? „Gegen den Weltmeister“, sagte Coelho immer und ließ stets ein paar Ausrufezeichen hinterherklingen. „Gegen den Weltmeister“ – das klang wie: Da kannste eh nix machen. Der Meister dieser Welt und Herrscher über alle angrenzenden Galaxien gleich dazu, mit Zinedine Zidane als Imperator. Zidane, der Allmächtige, der Kraft zu gewinnen scheint, wenn sie anderen langsam ausgeht. Seine Wendungen werden dann noch rhythmischer, dynamischer und unberechenbarer. Und nachher hat er noch Luft, poetisch zu werden: „Ein Glücksstern leuchtet uns.“
ZZ top, wie Zizou neuerdings genannt wird, spielt nicht nur blind geniale Pässe, brilliert mit Soli über den ganzen Platz, sondern ist zudem ein Arbeiter im Kleinen: Auch aus verlorenen Zweikämpfen holt er noch einen Freistoß raus. Ähnlich wie die drei Defensivkünstler im Mittelfeld (Petit, Deschamps, Vieira) ist er perfekt darin, aus Gewühl und Gestocher Ballbesitz zu machen. Vielleicht ist diese erdige Kunst das Erfolgsrezept der Franzosen: Sie sind alle grandios freche Diebe im Zweikampf. Das zermürbt andere auf Dauer.
Dass Glück dazu gehört und eine tragische Figur auf der Gegenseite, ist Fußballogik: Abel Xavier hätte in der 91. Minute fast den Siegtreffer erzielt, und hätte er sich kurz vor der 113. Minute die linke Hand amputieren lassen, wäre es nicht zu diesem fatalen Golden-Elfmeterpfiff gekommen (siehe unten). Den nannte Frankreichs Trainer Roger Lemerre nachher im Überschwang „einen großen Moment des Schiedsrichterwesens“. Und ließ keine Zweifel: „Hand ist Hand. Gesetze sind Gesetze.“
Das Duell der Stars gegen Luis Figo gewann Zidane um Längen. Die Dramaturgie ihres Duells spiegelte das ganze Match wieder: In Halbzeit eins zeigte Figo, der Überallige, mindestens gleich viel Raffinesse, freche Dribblings, behende Soli. Nach der Pause Zidanes Fanal: Er schlängelt sich um Figo herum. Später noch mal (oder schon durch ihn durch?). Figo versucht es kraftraubend allein. Und beginnt zu meckern. Er wird fahriger und müder, Zidane scheint seine Restenergien abzusaugen. Figo sieht, wie Zidane aufdreht, wie der Unterschied zwischen seiner Klasse und der Genialität des Kontrahenten wächst. Ob da auch frustrierende Gedanken hemmen? Figo mit Foul. Gelb. Figo am Boden. Er wirkt platt.
Frankreichs Laurent Blanc, anders als zur WM 1998 diesmal für das Finale nicht gesperrt, moserte: „Die Portugiesen haben viel zu wenig gezeigt.“ Am Ende wurde ihnen ihre vorsichtige Defensivausrichtung mit nur einer Spitze zum Verhängnis. Dabei ist, wie Spaniens El País gestern niederlagenkenntnisreich feststellte, doch „der Ball ihr Sauerstoff“. Kellermeister Coelho hätte zum Meisterwein etwas mehr davon gebraucht.
Portugal: Baia - Abel Xavier, Couto, Jorge Costa, Dimas (91. Rui Jorge) - Conceição, Vidigal (61. Bento), Costinha - Figo, Rui Costa (78. João Pinto) - Gomes Frankreich: Barthez - Thuram, Blanc, Desailly, Lizarazu - Vieira, Deschamps , Petit (87. Pires) - Zidane - Anelka (72. Wiltord), Henry (105. Trezeguet)Zuschauer: 48.000; Tore: 1:0 Gomes (19.), 1:1 Henry (51.), 1:2 Zidane (117./Handelfmeter); Rote Karte: Gomes (117.) wegen Schiedsrichterbeleidigung
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