: Keine jungen Männer mehr auf Iona
Auf der Hebrideninsel Iona im Norden Schottlands leben nur mehr 100 Menschen, und die werden immer älter. Der Ausgangsort der Christianisierung droht zum Touristenreservat zu verkommen. Gefragt sind junge Familien mit Kindern
von RALF SOTSCHECK
„Es war ein furchtbarer Verlust“, sagt Francis und schüttelt bedächtig den Kopf. „Ob sich die Insel jemals davon erholen wird, weiß ich nicht. Es gibt keine jungen Männer mehr auf Iona.“
Es war an einem Wochenende, als Ally Dougall, David Kirkpatrick, Logie McFadyen, Robert Hay und Gordon Grant hinüber nach Mull ruderten. Auf Iona ist nichts los, die schottische Hebrideninsel hat nicht mal ein Wirtshaus. Auch auf Mull, der anderen Insel, die zwischen Iona und dem Festland liegt, ist das Freizeitangebot nicht enorm, aber an diesem Wochenende gab es einen Ceilidh, eine Tanzveranstaltung mit traditioneller schottischer Musik. Francis ist Mitte 60, früher hat er in London beim Rundfunk gearbeitet. Als er pensioniert wurde, zog er nach Iona. „Sie sind oft nach Mull gerudert“, sagt er, „und die Leute haben sich jedes Mal Sorgen gemacht, die Strömung zwischen den Inseln ist tückisch.“ Eine Riesenwelle spülte die fünf Männer über Bord, vier ertranken. Gordon Grant, 33, konnte sich als Einziger retten. Er war der Älteste der fünf, die anderen waren alle unter 25 und unverheiratet.
Die Kraft des Meeres spürt man schon bei der zehnminütigen Überfahrt von Fionnphort auf Mull nach Port Rònain, dem Hafen von Baile Mòr, der „großen Stadt“, die in Wirklichkeit nur ein kleines Fischerdorf ist. Doch mit 20 Häusern ist es die größte Ansiedlung, die anderen 50 Häuser sind auf der Insel verstreut. Iona ist keine 14 Quadratkilometer groß.
1773 ließ sich der Dichter und Gelehrte Samuel Johnson in Port Rònain an Land tragen, weil er keine nassen Füße bekommen wollte: „Wir betraten nun jene berühmte Insel, die einst die Leuchte Kaledoniens war, aus der wilde Stämme und herumziehende Barbaren die Früchte des Wissens und die Segnungen der Religion schöpften. Der Mensch ist wenig zu beneiden, dessen Patriotismus auf der Ebene Marathons nicht stärker oder dessen Frömmigkeit zwischen den Ruinen Ionas nicht wärmer würde.“
Die Macht des Glaubens
Schon bevor St. Columban im Jahr 563 auf Iona landete und ein Kloster gründete, war die Insel ein religiöser Ort, an dem sich Druiden, die die Sonne anbeteten, niedergelassen hatten. Columban stammte aus einer königlichen Familie in der irischen Grafschaft Donegal. Bis zu seinem 40. Lebensjahr hatte er zahlreiche Kirchen und Klöster auf der Grünen Insel gegründet, dann wurde er in eine Auseinandersetzung mit einem anderen Clan verwickelt. Columban sicherte sich die Unterstützung seiner mächtigen Familie und siegte in der Schlacht, in der 3.000 seiner Feinde starben.
Die Kirchenoberen machten Columban für das unnötige Gemetzel verantwortlich und schickten ihn hinaus in die Welt, um genauso viele Seelen für die Kirche zu gewinnen, wie in der Schlacht verloren worden waren. Im Frühsommer 563 segelte er mit zwölf Anhängern nach Iona. Ob die Insel bewohnt war, weiß man nicht. Jedenfalls errichteten die 13 Männer ihre Gebäude nördlich der heutigen Abtei, darunter auch Columbans Mönchszelle. Wegen dieser Zelle wird Iona auch Icolmkille genannt: die Insel der Zelle Columbans.
Von Iona zogen die Mönche aus, um das Christentum zu verbreiten. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Insel immer wieder von den Wikingern überfallen. Als die Nordmänner im Jahr 806 am Strand der Märtyrerbucht, wie sie seitdem heißt, 68 Mönche töteten, flohen die Überlebenden nach Irland in die Abtei von Kells, wo sie die berühmte illuminierte Evangelienhandschrift, das heute im Trinity College Dublin ausgestellte „Book of Kells“, fertig stellten. Die toten Mönche wurden von der Märtyrerbucht auf der Sràid nam Marbh, der „Straße der Toten“, zum Friedhof Reilig Odhráin getragen. Er liegt direkt neben der mächtigen Benediktinerabtei, die von 1902 bis 1965 wieder aufgebaut wurde und heute wohl so aussieht wie zum Ende des 15. Jahrhunderts.
Lebendig begraben
Bis ins 20. Jahrhundert wurde der Brauch gepflegt, bei Totenfeiern von der Märtyrerbucht über die Straße der Toten zum Reilig Odhrsáin zu gehen. Wer war dieser Oran, nach dem der Friedhof benannt ist? Der Legende nach gehörte er zu den zwölf Anhängern Columbans, die gemeinsam mit ihm von Irland herübergekommen waren. Auf Iona schlug Oran vor, ein Opfer zu bringen und sich lebendig begraben zu lassen. Columban fand Gefallen an der Idee, doch als man Oran nach drei Tagen wieder ausgrub, war er noch am Leben und erzählte vom Jenseits. Columban war ob dieses Sakrilegs so entsetzt, dass er den armen Mönch gleich wieder verbuddeln ließ.
Die St. Oran’s Chapel auf dem Friedhof ist das älteste intakte kirchliche Gebäude auf Iona, die Kapelle stammt aus dem späten zwölften Jahrhundert. Vermutlich sind hier John und Donald McDonald begraben, der erste und zweite Lord der Inseln. Insgesamt sollen 48 schottische, vier irische und acht norwegische Herrscher auf dem Friedhof ruhen, genau weiß das niemand.
1057 ist Macbeth hier beerdigt worden, neben seinem Opfer Duncan. Bei Shakespeare heißt es, Duncans Leichnam sei „fort gen Westen nach Icolmkille, dem Beinhaus seiner Ahnen“. Die Steine der vermeintlichen Könige und Hochadligen sind inzwischen in der Oran-Kapelle, in der Abtei-Kirche und im Abtei-Museum untergebracht, um sie vor Umweltschäden zu schützen.
Die älteste entzifferbare Inschrift auf dem Friedhof gehört zum Grab von „John MacKay, Bewohner von Icolmkille“. Er und seine Frau wurden 1730 geboren. An der östlichen Friedhofsmauer steht ein Obelisk, der zwischen den keltischen Kreuzen etwas fremd wirkt. Wenige Stunden vor dem Jahreswechsel 1865 sei ein dreimastiger Schoner, der mit Baumwolle und Korn aus Amerika unterwegs nach Liverpool war, vom Sturm erfasst worden und lief auf einen Felsen auf, erzählt Francis. Nur 400 Meter vom Strand der Camus Cùl an t-Saimh, der „Bucht am Ende des Ozeans“, ging die Guy Mannering unter, 15 Matrosen starben. 19 konnten jedoch gerettet werden, darunter Kapitän Brown, weil die Einheimischen eine Kette gebildet und sich weit in die Bucht hinausgewagt hatten. „Als der US- amerikanische Konsul Bret Harte siebzehn Jahre später diese Geschichte hörte“, sagt Francis, „besuchte er die Gräber auf dem Reilig Odhráin und ließ den Obelisken als Denkmal errichten.“
Auch John Smith ist hier begraben, der britische Labour-Führer, der 1994 an einem Herzschlag starb. Seine Tochter Catherine ist mit Gordon Grant verlobt, dem einzigen Überlebenden des Bootsunglücks. Seine Freunde liegen an der Ostmauer in einem Dreieck, um das der Friedhof vor ein paar Jahren erweitert wurde.
Der Tod der Hoffnung
„Es leben nur noch gut 100 Menschen auf Iona“, sagt Francis. „In den vergangenen sieben Jahren hat die Bevölkerung um 40 Prozent abgenommen. Vor 150 Jahren waren es noch mehr als 500 Einwohner auf Iona.“
Lediglich vier Kinder besuchen die kleine Grundschule, zum Ende des Schuljahres wechseln alle auf die höhere Schule in Oban auf dem Festland. Dann wird die Grundschule auf Iona wohl schließen müssen, denn es gibt nur ein einziges Baby auf der Insel. „Es wäre sehr schade“, sagt Evelyn McPhail vom Bezirksrat, „denn die Schule ist ein wichtiger Teil der Gemeinde.“
Fast wäre Iona 1979 an reiche US-Amerikaner verkauft worden. Der Herzog von Argyll, dem die Insel damals gehörte, benötigte Geld und setzte ein Verkaufsinserat in die New York Times. Zwar machte sich in ganz Schottland Entsetzen breit, doch die Spenden, zu denen der National Trust, eine Treuhandgesellschaft, aufgerufen hatte, reichten bei weitem nicht zum Kauf Ionas. Da stiftete Hugh Fraser, der damalige Besitzer des berühmten Londoner Kaufhauses Harrods, anderthalb Millionen Pfund, Iona blieb schottisch.
Zwei Fünftel der Einwohner sind über 60. Nun geben die Insulaner Anzeigen in der Oban Times auf: „Haus auf Iona, nur an Familie mit kleinen Kindern zu vermieten.“ Es ist nicht einfach, Leute davon zu überzeugen, sich auf Iona niederzulassen. „Es gibt keine Arbeit“, sagt Francis, „im Sommer bringt der Tourismus etwas Geld. Viele vermieten ihre Häuser in der Zeit, wir haben jeden Sommer rund 200.000 Besucher.“ Fischerei und Landwirtschaft bringen immer weniger ein, die meisten sind auf Sozialhilfe angewiesen. Die Arbeitslosigkeit liegt weit über dem Landesdurchschnitt, Zuwanderern kann man nicht viel bieten.
So sind die Zukunftsaussichten langfristig schlecht. Die Einwohner hatten große Hoffnungen auf die vier jungen Männer gesetzt. „Vielleicht wären sie auf der Insel geblieben und hätten Familien gegründet“, meint Francis. „Für ein Touristenreservat ist Iona zu schade.“
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