: Ein Dorffest ohne Dorf
Wo jetzt Äcker gepflügt werden, lebten einst die Kuhlmanns, die Grages, die Oldörps. Ihr Dorf wurde eingeebnet. Heute wollen sie dort ein Fest feiern
aus Bardowiek JENS RÜBSAM
Wind pfeift über Felder. Regen hämmert auf Bäume. Pflaumen und Birnen klatschen zu Boden. Mit Kutte, Schirm und festem Schuhwerk trotzt eine Hand voll Menschen dem Gestürm, forsch durchschreiten vier Pensionäre und ein Junglandwirt die mecklenburgische Heide. Sie suchen ein Dorf.
Eine 150-Hektar-Fläche in Nordwestmecklenburg: Vor Jahren noch gelegen im Sperrgebiet der DDR und nahe dran an der Stadtgrenze zu Lübeck. Ein Flecken plattes Land: Noch heute sitzt dieser wie ein Stachel im Fleisch der fünf Besucher. Einer stiefelt erregt seiner Gemarkungskarte nach: „Hier muss unser Anwesen gewesen sein.“ Einer scharrt emsig mit der Ferse: „Hier, ein Pflasterstein! Da begann die Zufahrt zu unserem Hof.“ Einer weist streng auf eine grüne Wiese: „Hier ist meine Großmutter geboren.“ Zwei umlauern argwöhnisch ein Trafohäuschen: „Gleich hier daneben stand unser Haus.“
Die Wut der Gegangenen
Wo heute Äcker gepflügt werden und Wildschweine durchhecheln, wo ein Teich dümpelt und Obstbäume knorren, da lebten einst die Uhlhorns und die Kuhlmanns, die Grages, die Oldörps und die Wienks, 35 Leute insgesamt. Bardowiek hieß ihr kleines Angerdorf, eine Ansammlung von vier Bauernhäusern samt Scheunen und Ställen, einem Einfamilienhaus, einem Backhaus und einem Gänseteich. Wer noch im Frühjahr 1977 den Bardowiekern Post zukommen lassen wollte, notierte die Postleitzahl 2441 auf dem Brief. Schon im Sommer lohnte sich das Schreiben nicht mehr. Bardowiek war platt gemacht.
Was zwei Kilometer weiter, in der Bundesrepublik, der damalige CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf als „Krieg“ geißelte, redeten hier, in der Deutschen Demokratischen Republik, die Staatsmänner als „Sicherung des Sozialismus“ schön: die Schleifung von Dörfern entlang der 1.393 Kilometer langen „Staatsgrenze West“. Ob nun Jahrsau, Stresow, Viehle und Vockfey auf der Ostseite der Elbe oder Lenschow, Neuhof, Dutzow und Volksdorf in Mecklenburg – eingeebnet wurde, was zu nah an Feindesland grenzte. Rund 50 Dörfer wurden aus der DDR-Landkarte radiert, Bardowiek in den ersten Tagen des Jahres 1977. Allein dem backsteinernen Trafohäuschen war die Gnade der abrisswütenden Grenzbereiniger vergönnt.
Wer heute die Landstraße von Palingen nach Selmsdorf nimmt, der entdeckt am Wegesrand zunächst einen Findling mit der Aufschrift: „Bardowiek“, der bemerkt etwas später ein wackliges Holzschild mit der Aufschrift: „Bardowiek“, der sieht zuletzt das backsteinerne Trafohäuschen, auf der einen Seite die Aufschrift: „Bardowiek – vom DDR-Regime widerrechtlich zerstört“, auf der anderen: „Die Gemeinde Selmsdorf und die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern behindern seit der Wende den Wiederaufbau.“
Ein Findling, ein Schild, ein Trafohäuschen – der Name Bardowiek gräbt sich wieder ein ins Bewusstsein, Aufnahme in Landkarten findet er deswegen noch lange nicht. Vielleicht liegt es an der Bemalung des Trafohäuschens.
Im Jahre zehn der Deutschen Einheit gibt nichts besser die Stimmung an der Exgrenze zwischen West und Ost wieder als dieses alte Gemäuer am Straßenrand. Die Gegangenen verkünden ihre Wut über die Hiesigen, die Gebliebenen treibt das Unbehagen über die einst Ausgezogenen und nunmehr Rückkehrwilligen. „Von wegen widerrechtlich abgerissen“, heißt es hier, „die Westler wollen nur Geld machen“, heißt es da. Der Selmsdorfer Gemeinderat, zuständig für die Gemarkung Bardowiek, verweigert einer Bebauung bis heute hartnäckig die Genehmigung. „Ein Wiederaufbau ist nicht vorgesehen“, verlautet aus den Amtsstuben. Auf die unberührte Natur wird verwiesen, auf die Kosten, die mit einer Bebauung entstehen würden, auf das Konzept der Grundstücksbesitzer – Errichtung von Wohn- und Reihenhäusern – , das so gar nichts zu tun habe mit dem alten Bauerndorf.
„Eine kalte Enteignung“
Die Heimkehrer halten an diesem ungemütlichen Sommertag Hof auf weitem Mecklenburger Feld, das einmal Bardowiek war. Der Herr Grage, der hier aufwuchs. Der Herr Kuhlmann, der hier geboren wurde. Der Herr Röttger, dessen Großmutter hier lebte. Der Herr Danielsen und seine Frau, deren Eltern hier zu Hause waren. Vier Pensionäre und ein Landwirt halten Rat, allesamt Westdeutsche, allesamt nach der Wende Wiedereigentümer von Grundstücken in der mecklenburgischen Heide geworden, ihr Thema wie immer, wenn sie zusammenkommen: der Wiederaufbau der Ortschaft Bardowiek.
Wenn Egon Kuhlmann, 65, Besucher ins Auto bittet, steht eine Fahrt ins Grüne an, zu üppigen Wäldern und zu satten Wiesen, zu Orten im Exsperrstreifen, die einst gediegene Dörfer waren. Halt ist in Wahlsdorf, Halt ist in Volksdorf, Halt ist in Bardowiek, zu schaffen alle drei in einer guten halben Stunde Fahrzeit. Bei jedem Schlagloch wimmern die Stoßdämpfer, und auf der Rückbank purzeln die Dokumente durcheinander.
Egon Kuhlmann hat viele Dokumente auf dem Rücksitz liegen. Er ist Mitglied der „Interessengemeinschaft zum Wiederaufbau widerrechtlich abgerissener Grenzdörfer Mecklenburgs“. Er war Kläger gegen den Landrat und die Gemeinde. Er ist Verlierer im Rechtsstreit um „den Präzendenzfall“ für vertriebene Hofbesitzer. „Ein Baurecht“ auf Bardowiek könne „nicht einklagt“ werden, beschied das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Greifswald. „Mir will nicht in den Schädel“, wettert Kuhlmann, „dass Häuser einfach weggerissen werden können“ – mit dem Segen des Staates, ohne Einverständnis der Eigentümer, ohne eine Mark Entschädigung.
Mit hochrotem Kopf sitzt der Rentner Kuhlmann dieser Tage im Hause seiner Schwester, das in Palingen steht, dem Örtchen vor Bardowiek. Während er zetert und flucht, Unterlagen wälzt und nach Fotos kramt, stellt sie still Kaffee und Kuchen auf den Tisch. Er, der 1957 in den Westen ging und Einkäufer für eine Handelskette wurde, poltert drauf los. Sie, die im Sperrgebiet wohnen blieb, in einer LPG schaffte und immer darauf zu achten hatte, den Personalausweis bei sich zu tragen, enteilt fast wortlos der Wohnstube. „Ich will damit nichts zu tun haben“, sagt sie im Gehen. Eine Szene, die durchaus auch den Konflikt um Bardowiek verdeutlichen kann. Da ist der Westler, der nach der Wende in den Osten kommt, gegen alles und jeden anstürmt, der Front macht gegen die Behörden, der mit Gericht droht und tatsächlich auch klagt. Da ist die Ostlerin, die aufschreckt vor so viel Ungestüm. „Du kannst doch nicht gegen die Behörden anrennen“, hat sie gesagt – und dem Bruder schwant sofort vor allem eines: Hier wirkt das Regime nach. „Die Menschen in der Grenzzone wurden drangsaliert, sie durften nie den Mund aufmachen. Und wenn, wurde ihnen mit Aussiedlung gedroht.“
Der Lieblingsfeind des Rentners Kuhlmann ist das System. Dass die Grünfläche Bardowiek nicht als Bauland ausgewiesen wird, liegt „an der Verwaltung, in der heute noch immer die sitzen, die früher das sagen hatten“. „Kann man von solchen Leuten verlangen“, wütet der widerborstige Pensionär, „dass sie ihre Fehler eingestehen?“ Weihevolle Töne schlägt er erst wieder an, wenn er das nächste alte Foto erläutert, die nächste alte Geschichte erzählt.
Die Kuhlmanns sind eine Bauernfamilie in Mecklenburg wie viele andere, mit einem stattlichem Gehöft, 22 mal 33 Meter groß, mit Rindern, Schweinen und Pferden in den Ställen. Als 1939 der Kreisbauernführer einen Hof für seinen Schwager sucht, wählt er den Kuhlmannschen in Bardowiek aus. Die Kuhlmanns müssen verpachten an den Verwandten des NSDAPlers, Vater Kuhlmann wird in die Wehrmacht einberufen, und die Familie zieht auf den mütterlichen Elternhof ins Nachbardorf Palingen. 1952 flüchtet der Pächter vom Kuhlmannschen Hof in den Westen, und Bruno Kuhlmann, gerade aus Gefangenschaft zurückgekehrt, lehnt es ab, den Hof wieder zu bewirtschaften – „da arbeitest du nur für den Ablieferungszoll“, warnt ihn sein Sohn Egon.
Es ist die Zeit der LPG-Gründungen, der Zwangskollektivierung, des Wirtschaftens für den Staat. Die LPG „Gute Zukunft“ übernimmt den Kuhlmannschen Hof und auch den Erhalt der Gebäude. Was die Klausel wert ist, sieht man Jahre später: vernachlässigte Häuser, ruinierte Ställe, unbrauchbare Scheunen. Nicht nur der Hof Kuhlmann gleicht alsbald einem Totalschaden, auch die Gehöfte rundherum.
Lieblingsfeind ist das System
Bewusst werden die Gebäude im DDR-Grenzstreifen dem Zerfall überlassen, gezielt werden Höfe vereinsamt. Die Befürchtung der Staatsschützer: sie könnten Republikflüchtlingen als Unterschlupf dienen. Ziel der Grenzschützer: das Gebiet besser überwachen zu können. „Der Schandfleck musste weg. Er gefährdete die Sicherheit“, rechtfertigt noch heute Horst Bachmann, damals Bürgermeister, den Abriss, den er befahl. Ein Schandfleck, der aus Sicherheitsgründen beseitigt werden musste? Oder ein Dorf, das widerrechtlich platt gemacht wurde? Es ist eine Jagd um die Wahrheit, die hier ausgetragen wird zwischen Ostlern und Westlern.
Das Exgemeindeoberhaupt Bachmann, 30 Jahre treu an des Sozialismus Seite, schwört, dass „der Ort Bardowiek nur verschwinden musste, weil da keiner mehr hinziehen wollte“. Zu abgelegen sei das Dorf gewesen, zu unattraktiv als Wohnort für junge Leute. „Die haben sogar zu mir gesagt: ‚Zieh du doch da hin‘ “, schnaubt Horst Bachmann.
Der jetzige Selmsdorfer Bürgermeister Detlef Hitzigrath betont, dass von einer Schleifung von Bardowiek „nicht die Rede sein kann“. Verfallen sei der Ort gewesen. Einem alten Bardowieker Bauern wird in einer Versammlung vorgehalten: „Du bist doch selber schuld. Du hast damals alles liegen und stehen gelassen, du hast dein Vieh verlassen und bist in den Westen gegangen.“ Egon Kuhlmann redet sich in Rage: „Was da in der DDR passiert ist, war eine kalte Enteignung. Ein Bauer würde doch niemals freiwillig seine Scholle verlassen.“
Die Danielsens, die seit jeher in Lübeck leben, zitieren aus einem amtlichen Schreiben staatlicher Behörden. „Nur die DDR hat ein Verfügungsrecht über diesen Grund und Boden“, steht auf dem Papier geschrieben. „Reine Willkür, dieser Abriss“, sagt Herr Danielsen.
Was die Altmecklenburger nicht anficht, verbittert die Wiedermecklenburger. Wenn die einen aus ihren Stuben heraus höhnen: „Denen geht es doch nicht um Heimat. Denen geht es um Bauland, das sie verkaufen können“, murren die anderen im Brachland um so lauter: „Missgunst der Einheimischen“ und „Wir wollen doch nur unser Recht“. Heute werden die vier Pensionäre und der Junglandwirt ein weiteres Mal durch die mecklenburgische Heide ziehen, mit Festzelt, Dixi-Klo, Musikanlage, Kaffee und Gebäck. Gefeiert wird in Bardowiek ein Dorffest ohne Dorf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen