: Eine Drehtür ins Zuhause
Im Pflegeheim für psychisch Kranke auf dem Gelände des Klinikums Nord in Ochsenzoll kann jeder sein, wie er ist, zeigen, was er kann oder es wieder lernen ■ Von Sandra Wilsdorf
Als sie noch im Alsterhaus gearbeitet hat, da hatte sie einen Chef, „der sah aus wie Roger Moore“, sagt sie. „Wenn Udo Jürgens kommt, will ich mit ihm auf der Bühne tanzen“, ruft sie. Und fängt an zu weinen. „Ich bin so traurig, ich habe alles verloren, meinen Vater, meine liebste Mutter. Ich bin ganz allein und meine Verwandten, die laden mich nicht mal zum Geburtstag ein. Die soll doch in Ochsenzoll bleiben, sagen sie“.
Sie hat auf dem Gelände des Klinikums Nord/Ochsenzoll ein Zuhause gefunden. Hier lebt die 59-Jährige mit 17 anderen psychisch Kranken im ersten psychiatrischen Pflegeheim Hamburgs. Für die Einrichtung des „Freundeskreises Ochsenzoll“ wurde ein Haus renoviert, in dem vorher eine psychiatrische Station des Krankenhauses untergebracht war. Auch viele PflegerInnen wurden übernommen.
Es ist still. Männer und Frauen sitzen auf Stühlen und starren vor sich hin oder in sich hinein, eine geht einen Gang entlang, zwei spielen ein Brettspiel, einer dreht sich eine Zigarette. Nur das Radio spricht. Und die Frau, die Udo Jürgens mag. „Was wollen Sie? Ich rede nicht mit der Presse, morgen kommt der Bürgermeister, vorher sage ich nichts“, und redet dann doch wie aufgezogen.
Menschen wie sie, die chronisch psychisch krank sind, haben in Hamburg bislang zwischen Krankenhaus und eigenem Zuhause gelebt. Stationärer Aufenthalt, Entlassung in eine oft vollkommen überforderte Familie, stationärer Aufenthalt und so weiter und so weiter. Die Tür zum Krankenhaus war eine Drehtür. Wer das nicht wollte, musste Hamburg verlassen, nach Niedersachsen oder Schleswig-Holstein gehen, wo es Pflegeheime für psychisch Kranke schon sehr viel länger gibt.
„Diesen Zustand wollten wir abstellen, außerdem wollten wir etwas anbieten, wo psychisch Kranke bis ans Ende ihres Lebens bleiben können“, erklärt Carl Garbe, Geschäftsführer des „Freundeskreises Ochsenzoll“. Der Verein, den Angehörige von psychisch Kranken und Krankenhaus-Mitarbeiter 1974 gegründet haben, betreibt unter anderem Wohnprojekte, einen Integrationsbetrieb, einen ambulanten Pflegedienst und hat unter seinem Dach mehrere selbstständige Wirtschaftsunternehmen. Alle für psychisch Kranke. Für ein Pflegeheim hat sich der Verein schon seit zehn Jahren eingesetzt. Optimal findet Garbe das 80 Jahre alte Haus auf dem Klinikgelände zwar nicht, „aber wir mussten schnell handeln, auch weil einige der psychisch Kranken in unseren anderen Einrichtungen pflegebedürftig wurden.“ Deshalb ist dieses Haus ein Provisorium. „Wir konnten das Nötigste realisieren, leider nicht den Standard, dass jeder ein eigenes Zimmer mit Bad hat“, sagt Maren Knop, Leiterin von "PuB – Pflegen und Betreuen“, einem gemeinnützigen Toch- terunternehmen des Freundeskreises.
Garbe hofft, spätestens in drei Jahren einen Neubau beziehen zu können, in dem jeder sein eigenes Zimmer hat. „Am liebsten wieder hier auf dem Gelände des Krankenhauses“, sagt er. Da ist zum einen die parkähnliche Landschaft, das sind aber auch die kurzen Wege, wenn jemand doch einmal stationär behandelt werden muss, hier kommen Ärzte der psychiatrischen Ambulanz des Klinikums Nord regelmäßig her. „Und hier herrscht völlige Toleranz“, sagt Garbe. In einer reinen Wohngegend würde es Probleme geben, wenn die Kranken ihren inneren Druck schon mal lautstark Ausdruck verliehen.
Bislang sind 18 der 36 Betten belegt. Die Bewohner sind zwischen 44 und 89 Jahren alt. Die Ein-, Zwei- und Dreibettzimmer sind hell eingerichtet, jeder kann aber auch eigene Möbel mitbringen. Die meisten Türen haben Fenster in Augenhöhe. Bunte Vorhänge hängen von innen an den Scheiben und bremsen neugierige Blicke. Als das hier noch Krankenhaus war, hingen die Vorhänge draußen.
Eine Frau fängt das Herz auf, das ein Vogel ihr bringt. Oder nimmt er es weg? Bilder, die in der Kunsttherapie entstanden sind, hängen im Flur der oberen Etage. Ein Werk heißt „Freiheit“, lauter schwarze Raben sitzen eng bei- und aufeinender. Einer sitzt daneben.
„Das besondere an dieser Einrichtung ist auch ihre Finanzierung“, sagt Garbe. Neben den Leis-tungen der Pflegeversicherung erhalten die Kranken ambulante Eingliederungshilfen des Hamburger Sozialhilfeträgers. Denn die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist wichtig, und die Pflegeversicherung ist eher für Körper als für Seelen zuständig.
„Wir sind Ressourcensucher“, erklärt Pflegedienstleiterin Brigitte Dirschl ihr Selbstverständnis. Sie suchen nach dem, was BewohnerInnen können, was in ihnen steckt. „Eine Dame, die vorher in einem Heim gelebt hat und vollkommen in sich zurückgezogen war, legt jetzt ihre Tagebücher und Bilder aus und redet darüber“. „Ressourcensuche“ können sich die PflegerInnen hier leisten, weil bei voller Belegung 14 MitarbeiterInnen für 36 BewohnerInnen zuständig sind. 70 Prozent des Pflegepersonals sind ausgebildet, die Hälfte davon hat Psychiatrieerfahrung. Außerdem kommt ein sozialpädagogischer Dienst, und im Haus ist eine Praxis für Ergotherapie. „Denn viele haben aufgrund ihrer Krankheit bestimmte Fähigkeiten verloren“, erklärt Dirschl. Deshalb bekommen sie Ess- und Trinktraining für die Motorik, aber auch Sprachtraining und Angebote wie Malen und Tonarbeiten.
„Viele unserer Bewohner haben keine Familie, da wird das Heim ein Ersatz“, sagt Dirsche. Deshalb versuchen die Mitarbeiter, es den Bewohnern so heimisch wie möglich zu machen. „Dabei darf und soll jeder etwas von sich einbringen“, sagt Maren Knop. Einer hat Insel und Leuchtturm auf die Wand gemalt, eine kocht Erdbeermarmelade mit den Kranken, und einer hat für Kaninchen und Salatanbau in dem großen Garten mit den alten Bäumen gesorgt.
„Haben Sie unsere Haustiere gesehen?“ Die Frau mit Schwächen für Udo Jürgens und ihren ehemaligen Chef mag auch Kaninchen. Und sie hat Mitgefühl für Helmut Kohl. „Der arme Herr Kohl, der tut mir so leid.“
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