: Die selektive Blindheit der Existenz
Warum nicht Malzbier und Bananen? Niklas Luhmanns posthum veröffentlichte „Religion der Gesellschaft“ liegt nun vor
von PETER FUCHS
Das theoretische Szenario ist bekannt. Die Gesellschaft stattet sich nach dem Zusammenbruch der Stände- und Schichtordnung des Mittelalters und im Zuge eines langen, mühsamen und vermutlich noch nicht abgeschlossenen, vielleicht nie abschließbaren Prozesses mit Funktionssystemen aus, die autonom und jeweils gesellschaftsweit Funktionen bedienen wie die Regulierung von Knappheit (Wirtschaft), die Möglichkeit der Aufrechterhaltung enttäuschter Erwartungen (Recht), die Produktion negativer und positiver Karrieren (Erziehung), die Kontrolle über Wahrheit und Irrtum (Wissenschaft), den Einschluss von durch Generalexklusion bedrohten Personen (Soziale Arbeit), die Konstruktion von abweichenden Versionen derselben Realität (Kunst), die Erzeugung und Disposition über kollektiv bindende Entscheidungen (Politik) etc.
Zu all diesen Funktionssystemen liegen von Niklas Luhmann Aufsätze und Bücher in Fülle vor. Das Schema funktionaler Differenzierung stand ihm schließlich schon relativ früh zur Verfügung, nahm aber in der letzten Dekade seines Lebens eine besondere Form an, die sich in Buchtiteln ausprägte wie „Die Wissenschaft der Gesellschaft“, „Die Wirtschaft der Gesellschaft“, „Die Kunst der Gesellschaft“, schließlich (als Gipfel dieser schlauen Genitive): „Die Gesellschaft der Gesellschaft“. Die Raffinesse dieser Buchtitel besteht darin, dass sie die Systeme, die sie bezeichnen, relativieren auf ein Referenzsystem hin, nämlich auf die Gesellschaft, ohne die keines dieser Systeme seinen Eigenstand, sein eigenes Sein und Wesen hätte. Es sind, wie man vielleicht sagen könnte, schwebende Titel, durch die kein Sein festgelegt, sondern eine Beobachtungsperspektive bezeichnet wird. Es geht nicht darum zu sagen, was diese Systeme an und für sich sind. Vielmehr wird eine Perspektive eröffnet, von der aus etwas über Funktionssysteme gesagt werden kann – über ihr soziales (also gesellschaftliches) Fungieren und nicht etwa: über ihre Innenbewandtnisse, Überzeugungen, Letztwahrheiten.
Das wird dann besonders spannend, wenn Systeme wie die Kunst oder die Religion ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Es scheint in ihnen um existenzielle Interessen zu gehen, um Grundbedingungen des Humanums, um etwas, das sich nicht zur Deckung bringen lässt mit sozusagen aseptischer reiner Sozialität. Stärker noch als die Kunst ist ja Religion aufgeheizt mit Verheißungen, die den Menschen und seine Seele betreffen, sein individuelles (über den Tod hinausreichendes) Schicksal, sei es, dass eine persönliche Erlösung gedacht wird (Christentum) oder eine endgültige Befreiung vom Leiden in der Weder-Sein-noch-Nichtsein-Zone des Nirwana. Religion spricht (darin ist sie sozial) von diesen Schicksalen, Erlösungen, Befreiungen, aber sie spricht, wie es den Anschein hat, in die Bewusstseine hinein, die je einzeln vor die Gretchenfrage gestellt sind, wie sie es denn mit Immanenz und Transzendenz halten wollen und was sie im Blick darauf an hiesigen Glücks- und Leidensmöglichkeiten riskieren werden. Kurz, dies alles scheint sich dem Chirurgenbesteck der Soziologie (und ihrer eisigsten Variante, der Systemtheorie) zu entziehen.
Luhmann beweist mit seinem posthum erschienenen, von André Kieserling edierten Buch „Die Religion der Gesellschaft“ erneut seine Courage, auch dieses Thema, das ihn übrigens zeitlebens interessierte und das er für seine Verhältnisse seltsam ironiearm behandelte, zu bearbeiten. Der Bauplan ist bekannt. Über die Sinnform der Religion und die Codierung über die Zentralfrage der Funktion von Religion bis hin zu Fragen der Evolution, der Säkularisierung und Selbstbeschreibung des Systems spannt sich der Bogen – in umfangreichen Kapiteln, die als Studien auch für sich stehen könnten, ein typisch Luhmann’sches Textgestaltungsverfahren, in dem der Beobachter mit verschiedenen, aber aufeinander bezogenen Unterscheidungen arbeitet, die es dem Rezensenten sehr schwer machen, sie ihrerseits zu unterscheiden, ohne den ganzen Apparat des Textes zu duplizieren. Allerdings ist damit auch der Einstiegspunkt nicht vorentschieden. Es ist erlaubt, den einen oder anderen Aspekt herauszugreifen, also absichtsvoll (das ist der paradoxe Sinn des Wortes A-Spekt) auszublenden und absichtsvoll weniges von dem vorzukosten, was den Leser, die Leserin erwartet.
Ein Schlüsselaspekt dürfte die Funktion von Religion sein. Sie kann ja im Luhmann’schen Denkduktus nicht als eine Funktion für sechs Milliarden Einzelbewusstseine thematisiert werden. Sie kann auch nicht einfach so formuliert werden, wie es die Religion und ihre Organisationen tun: als Ziel der Erlösung, der Aufhebung des Leidens, der Überwindung des Todes. Luhmanns Funktionalismus lässt sich demgegenüber am besten beschreiben als Technik der Problemkonstruktion, durch die ein Vergleichsbereich funktional äquivalenter Problemlösungen erzeugt wird, oder einfacher: Im Zentrum steht die Frage danach, ob sich ein soziales (kommunikatives) Problem konstruieren lässt, dessen nicht triviale Lösung (singuläre) Lösung die Religion so darstellt, dass sie vergleichbar wird.
Schon das ist brisant, denn man muss, um die Unvergleichbarkeit dieser einen Lösung herauszufiltern, erst einmal und überhaupt: vergleichen. Und das ist, wie man sagen könnte, Religion nicht gewohnt. Allein die Annahme, dass sie als ein System (also wenigstens in dieser Hinsicht vergleichbar) operiere, gar eine Funktion habe, wie die Wirtschaft, das Recht, die Wissenschaft, die Kunst, die Politik Funktionen haben, ist keineswegs tückenfrei, ist alles andere als harmlos, manövriert in die Beobachtung der Religion Kontingenzen hinein – ein hoch moderner Vorgang zwar, der aber, wie behutsam er auch immer erfolgen mag (und Luhmann ist hier geradezu maßlos behutsam), eigentlich alle Abwehrreflexe der Religion aktivieren müsste.
Während man von der Codierung (Immanenz/Transzendenz) noch sagen kann, dass sie im System arbeitet, im System selbst das Dazugehörige und Nichtdazugehörige unterscheiden hilft, ist der Blick auf die Funktion ein Alternativen generierender, ein öffnender Blick. „Selbst auf konkreten Ebenen fällt es schwer, diese Öffnungen zu akzeptieren. Man kann zwar fragen: wenn Wein und Brot nicht verfügbar sind, warum nicht Malzbier und Bananen? Aber dann müsste zuvor bestimmt werden, welches Problem hier gelöst wird, denn sonst verlöre man jede Beschränkung aus dem Blick.“ (S. 118)
Damit ist jedenfalls klar, dass die Beobachtung der Funktion einen externen Beobachter voraussetzt, dessen Funktionsbestimmung und daran gebundene Vergleichsmöglichkeiten sich nicht ohne weiteres in die Religion hineinspiegeln lassen. Der externe Beobachter (die Soziologie dieses systemtheoretischen Zuschnitts) kann dann nur bedingt auf das zugreifen, was das System selbst für seine Funktionen hält, und er muss deswegen andere Funktionsbestimmungen anderer Beobachter ausschließen, zum Beispiel die alte soziologische Idee, Religion stifte Soldidarität und integriere über moralische Sinnangebote. Schließlich liegt auf der Hand, dass Religion weltweit eine hoch aktive Quelle von moralischen Konflikten war und noch immer zu sein scheint. Sie ist (wie alles, was sich auf Moral beruft) polemogen, dem Streite, dem Kriege eher zugeneigt als dem, was sie als Versöhnung und Friede laufend proklamiert. Die katholische Kirche mag im Kommunions- und Firmunterricht (und nicht ohne Rückendeckung durch das Verhängnis der Gemeindepädagogik) Kerzen aufflammen und den lieben Gott lieb sein lassen, aber es ist unvermeidbar, dass sie dennoch alle Naslang moralische Springteufel aus dem Kasten springen macht – eine lange und nicht immer friedvolle Geschichte hindurch.
Was aber könnte dann die soziale Funktion der Religion sein? Das Problem ist zunächst, dass diese Funktionsbestimmung gearbeitet ist mit einem differenz- und beobachtungstheoretischen Vokabular, das nicht überall bekannt und geläufig ist. Aber im Prinzip geht es um eine einfache Figur. Wo immer Sinn in Gebrauch ist (psychisch oder sozial), wird das Spiel der Unterscheidungen gespielt. Wir unterscheiden etwas von etwas anderem, und manchmal bezeichnen wir die eine Seite der Unterscheidung und nicht die andere. Eben das nennt Luhmann: Beobachtung. Immer wenn beobachtet wird, wird auch unterschieden, aber damit auch die Möglichkeit geschaffen, die Unterscheidung, die diese Operation benutzt, selbst zu unterscheiden. Die Operation der Beobachtung unterscheidet etwas, und sie ist von einem anderen Beobachter als genau dies beobachtbar, als die Benutzung einer Unterscheidung. Ein Konstanzer Taxifahrer (dem ich dies nie verzeihen werde) avisierte mich seiner entschieden jüngeren Kollegin, die mich vom Hotel abholen sollte mit den Worten „Achte auf den etwas korpulenten älteren Herrn mit weißen Haaren!“, und im Rücken dieser Unterscheidung verschwand mein intelligenter souveräner Blick unter buschigen Augenbrauen, der ja auch hätte unterschieden und bezeichnet werden können.
Jede Unterscheidung-im-Einsatz hat einen Ausblendungsbereich, den sie selbst nicht mitbeobachtet. Sie ist definiert, indem sie etwas entdefiniert, etwas ins Verschwinden treibt. Jede Unterscheidung-im-Einsatz erzeugt eine Sicht, indem sie die Schattenreiche der anderen Möglichkeiten zusammenstürzen lässt, sei es vorübergehend, sei es auf immer. „Existence“, so formuliert Spencer-Brown, „is selective blindness.“ Das ist alltäglich, das ist immer so, aber genau dann, wenn es zum Problem wird, wenn man also darauf hingewiesen wird, dass dies so ist, dass es vollständigen Sinn nicht gibt, keine abschließenden und alles berücksichtigenden Beobachtungen, genau dann tritt Religion auf den Plan. Sie hat es, wie man formulieren könnte, mit der Selektivität aller Selektivität zu tun, also mit einem Problem, das sich dem Einzelbewusstsein gar nicht stellen könne, dem ja Sinn sozial angeliefert wird.
Entscheidend ist, dass das Problem nicht lösbar (also katalytisch) ist. Auch Religion kann Sinngebrauch nicht stillstellen oder gar verhindern, dass in jedem aktuellen Sinngebrauch Hinter-Sinnwelten entstehen. In gewisser Weise zelebriert Religion ein Stattdessen, insofern sie die Unbestimmbarkeit allen Sinns, der durch Sinngebrauch in die Welt kommt, durch das Postulat einer ultimaten Bestimmbarkeit ersetzt. Aller Sinn (auch der Gegensinn) hat einen Sinn, der immanent nur nicht erkennbar ist, aber garantiert werden kann. Und diese Garantie erteilt nicht Wissenschaft, nicht Kunst, nicht Wirtschaft, nicht Erziehung, sie ist exklusiv an das Religionssystem gebunden, die damit unter modernen Bedingungen nicht mehr Gesamtsinn für alle herstellt (was wollte die Wirtschaft mit Religion?), aber die Möglichkeit bereithält, die Kontingenz allen Sinns zu kommunizieren, ohne sofort zu verzweifeln. Man wird nicht umhinkommen, in dieser gleichsam schieren Kontingenz ein gesellschaftliches Problem zu sehen, und es ist dieses Problem, dessenthalben Religion mit ihren Formen weltweit noch immer überzeugt – wenn auch, dergleichen deutet Luhmann an, mit einer sich womöglich evolutionär einspielenden Desakralisierung.
Daran schließt Luhmann weitreichende und faszinierende Analysen an, von denen man hoffen kann, dass die Theologien als Reflexionsinstanz der Religion Kontakt mit ihnen aufnehmen. Schließlich entsteht „ein ganz anderes Verhältnis [. . .], wenn es zwischen Soziologie und Religion zur Kommunikation kommt. Dann rückt, von der Soziologie aus gesehen, die Religion in die Stellung eines Anderen, der an Kommunikation teilnimmt und dadurch verwundbar wird.“ (S. 356) Und vice versa, wie man sagen müsste.
Wer Luhmann zu lesen versteht, wird sehen, wie revolutionär die Annahme der Möglichkeit eines solchen gleichsam interresidentiellen Gespräches ist. Religionsnah formuliert, ließe sich sagen: Wer Ohren hat, zu hören, der horche nun auch auf.
Niklas Luhmann: „Die Religion der Gesellschaft“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, geb., 376 S., 42 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen