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Deutlich unsichtbare Gegner

Daniel ist 12 Jahre alt und ein erfolgreicher Judoka. Auf der Matte kann er weniger auf seine Gegner achten, sondern muss seinem Gefühl und seiner guten Technik vertrauen. Denn Daniel ist blind

von ULRIKE BOHNSACK

„Daniel, hier sind wir.“ Der Junge im Judoanzug dreht auf seinem Weg durch die Turnhalle ab und trabt auf die am Rand sitzende Elternriege zu. Seine Mutter drückt ihm die Wasserflasche in die Hand. Zwischen den Schlucken bindet er seinen orangefarbenen Gürtel, reiht sich dann zum Begrüßungszeremoniell in die Gruppe auf der Matte ein. Kommandos, eine Verbeugung, der Trainer klatscht in die Hände: „Und los!“

Daniel Hoß schnauft sich mit den anderen Kindern durch das Aufwärmprogramm. Kniebeugen sind nicht gerade seine Leidenschaft, Laufen ist ihm da schon lieber. Locker hält er mit der vielbeinigen Schar Schritt, obwohl er nur eine kleine Ahnung davon hat, was sehen heißt: Hell, dunkel und eine gewisse Farbigkeit vermag er auszumachen mit den zwei Prozent Sehkraft auf dem linken Auge. Auf dem rechten ist er ganz blind – ein angeborener Augenfehler.

Daniel zieht energisch an Roberts Jacke, macht eine halbe Drehung und versucht einen Hüftwurf. Robert plumpst zu Boden. Daniel zieht eine Das-war-wohl-nichts-Grimasse. „Du musst dich weiter eindrehen und hier anfassen.“ Trainer Wolfgang Ehnes stupst Daniels Hände und Hüfte in die richtige Position. Die nächste Technik kommt sauber. Der 12-Jährige triumphiert und landet wenig später selbst auf dem Rücken. Sein für ihn unsichtbarer Gegner hat sich revanchiert.

Vier Gürtelprüfungen und etliche Turniere hat er gemeistert, seit ihn vor drei Jahren eine Klassenkameradin aus der Düsseldorfer Blindenschule zum Probetraining bei den Judofreunden 73 mitnahm. Die Begeisterung seiner Mutter („Daniel sollte sich mehr bewegen“) teilte der stämmige Junge bald. Von der Gruppe für blinde und stark sehbehinderte Kinder wechselte er in die Leistungsgruppe des Düsseldorfer Vereins. Ein blinder Judoka, der unter den 20 sehenden kaum auszumachen ist, so sicher bewegt er sich schon auf der Matte.

Mutig ist der Wuppertaler nicht nur in vertrauter Umgebung. Angst vor neuem Terrain kennt er nicht. Radfahren ist ebenso sein Hobby (er allein auf einem Rad, ein „Lotse“ vornweg) wie Formel 1. Bei jedem Rennen drückt der Schumi-Fan sich die Nase am Fernseher platt. Fürsorgliche Behandlung nervt ihn. Die einen sehen, andere eben nicht. An der Chancengleichheit, auch auf der Matte, ändert das für ihn nichts. „Die sind nicht im Vorteil“, sagt er in energischem Ton über seine nicht gehandicapten Kontrahenten. Jüngst Internationaler Deutscher Meister der Sehbehinderten seiner Altersklasse geworden, schlägt Daniel sich auch auf Turnieren der Sehenden gut. Nur die Kampfrichter sind informiert, seine Gegner überrascht, wenn sie anschließend von den ungleichen Voraussetzungen erfahren. Bei den Bezirksmeisterschaften wurde Daniel Zweiter, trotz Qualifikation ließ Wolfgang Ehnes ihn nicht bei den Westdeutschen Meisterschaften starten. „Konditionell ist er noch nicht so weit.“

Diese Art von Integration sieht Wolfgang Janko, Behindertensportbeauftragter des Nordrhein-Westfälischen Judo-Verbandes, allerdings kritisch. Nicht ohne Grund, so Janko, habe man je nach Behinderung spezifische Wettkampfregeln und damit faire Bedingungen geschaffen. Blinde und Sehbehinderte kämpfen unter sich, suchen ihre Meister mittlerweile bei Weltmeisterschaften und den Paralympics. „Ein blinder Kämpfer ist gegenüber einem sehenden immer benachteiligt. Auf den unteren Turnierebenen mögen sich Erfolge einstellen. Aber je höher das Wettkampfniveau wird, desto wichtiger wird gleichzeitig das taktische Verhalten: wissen – und sehen –, was der andere macht“, sagt der ehemalige Bundesligakämpfer, der auch geis- tig behinderte Judoka trainiert, zusammen mit Nichtbehinderten.

„Man muss schon das absolute Judo-Genie sein, um als Sieger von der Matte zu gehen. Denn der visuelle Sinn lässt sich nicht allein durch Bewegungsantizipation und Empathie ersetzen. Diese Fähigkeiten entwickeln sehende Judoka ebenso“, erklärt Janko.

Im Erspüren von Bewegungen sieht Wolfgang Ehnes jedoch nicht Daniels Erfolg. „Er besitzt einen unglaublichen Siegeswillen. Daniel will immer Erster werden.“ Viermal hat er es schon geschafft.

Nach den Ferien wird er die Schule wechseln und den Wohnort gleich dazu. In Marburg, der „Bildungshochburg“ für Blinde, ist er für das Gymnasium der Blindenstudienanstalt angemeldet. „Es war sein ausdrücklicher Wunsch“, sagt seine Mutter. Dass er seine Familie nur sporadisch sehen wird, nimmt Daniel gelassen. Dafür kann er dann endlich Freundschaften pflegen, was bislang durch die Trennung von Schul- und Wohnort ein Problem war. Und in Marburg wird er wohl noch häufiger auf der Matte zu finden sein.

Ein Motivationsschub kam jüngst per Post: Der Jugendnationaltrainer der Sehbehinderten hat ihn zum Lehrgang eingeladen.

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