: „Die Zivilisation ist bedroht“
Interview: BERNHARD PÖTTER
taz: Herr Rifkin, Sie haben als Erster ein Patent auf eine Kreuzung zwischen Mensch und Tier, so genannte Chimären, angemeldet. Wie geht dieses frankensteinsche Projekt voran?
Jeremy Rifkin: Oh, es hat das US-Patentamt ziemlich aus der Bahn geworfen. Seit zweieinhalb Jahren habe ich mit einem Zellbiologen auf Mensch-Tiere-Chimären ein Patent angemeldet, das in der medizinischen Forschung Milliarden wert wäre. Wir haben die Experimente nie gemacht, aber das muss man gar nicht. Die Idee ist, dass wir das System bis zum Obersten Gerichtshof testen. Wenn wir gewinnen, halten wir das Patent, und niemand kann für 20 Jahre auf diesem Gebiet etwas tun. Wenn wir verlieren, muss jedes Patent auf menschliches Leben widerrufen werden.
Wenn Sie das Patent bekommen, ist die Versuchung groß, eine Menge Geld machen.
Das könnten wir nicht mal, wenn wir uns völlig ändern würden und es wollten. Wir haben Dokumente unterzeichnet, die uns daran hindern.
Was ist also der Sinn des Patentantrags?
Wir haben einen Pflock eingeschlagen, der im Moment in den USA die gesamte Patentierung von Leben verhindert.
Aber die Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms vor einigen Wochen wurde von vielen als historischer Schritt gefeiert.
Ja, das ist ein kritischer Tag des Übergangs in das Zeitalter der Biotechnologie, die das 21. Jahrhundert dominieren wird. Aber erinnern wir uns: Das Genom ist nicht das Rezept, sondern nur die Zutatenliste. In der aktuellen Aufregung scheinen die Gene stärker als sie sind. Die Soziologie des Gens ist stärker als die Proteine. Gene sind ein wichtiger Faktor im Puzzle des Lebens, aber ob sie etwas bewirken, ist auch eine Frage der Umwelt.
Also müssen wir uns daran gewöhnen, dass die Gentechnik unser Leben bestimmen wird?
Es wird einen harten und einen weichen Pfad der Entwicklung geben. Der Weg in die Biotechnologie ist nicht aufzuhalten, und ich habe keine Angst davor. Wir brauchen nur eine sehr informierte und leidenschaftliche Debatte darüber, wo wir hinwollen.
Wie kann es in der Gentechnik einen weichen Pfad geben?
Ein Beispiel aus der Landwirtschaft: Der harte Pfad ist das genetisch manipulierte Lebensmittel, klassisches Denken des 19. Jahrhunderts: Jedes einzelne Korn ist ein kleiner Soldat, der mit Waffen – Genen – für den Widerstand gegen Schädlinge und gegen Pestizide ausgerüstet wird. Das ist ziemlich primitiv.
Der weiche Weg nutzt die gleiche Technik, um eine nachhaltige, organische Landwirtschaft kommerziell zu nutzen – ohne Genmanipulation. Aber wir entwickeln einen genetischen Bauplan jeder einzelnen Getreideart und lernen, wie diese Genome mit anderen Faktoren natürliche Mutationen bewirken. Wir werden das klassische Züchten extrem verbessern. Das ist ein integrativer Ansatz, in dem die Beziehung von Pflanze und Umwelt berücksichtigt wird – und nicht nur die Pflanze hochgerüstet wird.
Aber sobald man den Bauplan der Pflanze hat, ist die Versuchung riesig, den kurzen Weg zu nehmen.
Gerade im Gegenteil: Wenn man die Mittelklasse, die die Konsummuster bestimmt, fragt: Wollt Ihr genetisch manipulierte oder natürliche Lebensmittel zum gleichen Preis, wäre die Antwort für die natürliche Form klar. Organische Lebensmittel müssen so billig sein wie genmanipulierte. Je mehr die Leute wissen, desto mehr sind sie gegen Genfood. Die Genindustrie sagt ja immer das Gegenteil: Je mehr die Leute aufgeklärt sind, desto weniger Angst haben sie davor. Das scheint nach den Umfragen nicht zu stimmen.
Das größte Anwendungsfeld für die Gentechnik ist die Medizin. Wie sähe der weiche Pfad hier aus?
Der harte Pfad wäre, Gentechnik-Medizin nehmen, um gesund zu werden. Ich bin nicht dagegen, wenn sie wirkt. Die Keimbahntherapie, die Manipulation des menschlichen Erbgutes, ist eine Grenze, die man nicht überschreiten darf. Der sanfte Weg heißt, die Informationen über das Genom dazu zu benutzen, eine sehr ausgefeilte und kommerziell interessante Präventivmedizin aufzubauen. Wir wissen, dass die großen Killer wie Herzattacke, Diabetes oder Krebs alle genetische Vorbedingungen haben. In zehn bis fünfzehn Jahren können wir von jedem Menschen ein genetisches Profil anfertigen und seine genetischen Prädispositionen mit Medikamenten in Schach halten. Wir könnten sehr ausgefeilte Diätvorschriften entwickeln, von der Empfängnis bis zum Tod, um unsere Risiken zu minimieren, die Zellen am Mutieren zu hindern. Man könnte die Lebenserwartung sicher bis gut in die Neunziger oder sogar bis über 100 Jahre erstrecken, ohne Gott zu spielen.
Die Frage ist, wo machen die Unternehmen mehr Geld?
Beim weichen Weg. Mit Abstand. Die neue vernetzte Wirtschaft bevorzugt den weichen Weg. In der alten, der Marktgesellschaft, gibt es Käufer und Verkäufer, Eigentum wechselt den Besitzer und man macht Profit bei der Marge beim Verkauf und beim Umsatz. Die Pharmafirma Eli Lilly etwa wollte bisher so viele Medikamente mit so großer Gewinnspanne wie möglich verkaufen, um ihr Geld zu machen. Jetzt haben sie gemerkt, dass es besser ist, einen Rundum-Service anzubieten. Sie konzentrieren sich auf „Krankheits-Management“: Sie lassen die Leute gesund werden, und sie halten sie gesund.
Das bedeutet eine dauerhafte Verpflegung mit Medikamenten.
Ja, möglicherweise verkaufen sie erst einmal weniger Medikamente, wenn die Leute gesund sind. Aber am Markt hat die Pharmafirma nur mit den Leuten zu tun, wenn sie krank sind. Aber jemanden gesund zu halten, ist ein Aufgabe für 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Noch wichtiger: Sie bauen ein Netz mit den Krankenversicherungen und Krankenhäusern auf. Wenn die Pharmafirma also die Menschen gesund erhält, haben die Versicherer weniger Ausgaben und die Unternehmen höheren Gewinn durch gesunde Angestellte, und beide teilen diesen höheren Profit mit der Pharmafirma. Hier können die Pharmafirmen viel mehr Geld machen als durch den Verkauf einzelner Genmedizin.
Ist das die neue „Netzwirtschaft“ im Gegensatz zur Marktwirtschaft?
Am Markt maximiert man seine Produktion und macht Profit durch die Gewinnspannen bei den Verkäufen und das Volumen des gesamten Verkaufs. In der Netzwirtschaft ist es andersherum. Man minimiert die Produktionen, das heißt hier: weniger Operationen, weniger Medikamente, und man macht Geld durch das Teilen der Einsparungen, die alle haben. Die großen Chancen beim Genom liegen in einer ausgefeilten Präventivmedizin. Was jetzt nach dem großen Gewinner aussieht, die Genmanipulation, wird nicht mehr so wichtig sein. Das hat nichts mit sozialem Gewissen der Unternehmen zu tun. Da lässt sich einfach mehr Geld machen.
Das klingt, als werde es allen besser gehen. Was sind die Risiken?
Die Machtkonzentration in der Netzwirtschaft ist viel größer als in der Marktwirtschaft. Nehmen Sie das Beispiel Monsanto: Wenn Sie von Monsanto einen Getreidesamen geliefert bekommen, werden Sie ein Klient und sie bezahlen für den Zugang zu dem intellektuellen Potenzial von Monsanto, das Ihnen einmal für eine Ernte die Samen zur Verfügung stellt. Das intellektuelle Eigentum bleibt beim Eigentümer und wechselt nicht den Besitzer. Monsanto würde am liebsten nie mehr einen einzigen Samen verkaufen, sondern die Bauern dazu bringen, rund um die Uhr bei ihnen um Zugang zu Saatgut nachfragen zu müssen.
Kapitalist sein heißt aber eigentlich, die Produktionsmittel zu besitzen und nicht nur zu leasen.
Wir bewegen uns auf eine neue Art der Wirtschaft zu, die vom Kapitalismus so verschieden ist wie Kapitalismus vom Merkantilismus. In der Netzwirtschaft gibt es keine Verkäufer und Käufer, sondern nur Versorger und Klienten.
Wie können Sie sagen, dass das Eigentum verschwindet? Gerade in den USA halten die Haushalte so viel Eigentum wie noch nie.
Eigentum wird es weiterhin geben. Eigentum an Produktionsmitteln bleibt auch so wichtig wie es immer war, aber es wird nicht mehr ausgetauscht. Es bleibt in den Händen des Produzenten. Und die Klienten sichern sich den kurzfristigen Zugang zu diesem Eigentum auf der Basis von Verträgen wie Leasing, Miete oder Lizenzen. Physisches Eigentum wird nur noch als Betriebskosten oder sogar als Behinderung gesehen, während intellektuelles Eigentum das kritische Kapital wird.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Unternehmen?
Niemand will mehr General Motors sein. Alle wollen Nike sein. GM ist auf dem Papier die reichste Firma der Welt nach alten Maßstäben: Sie hat massenhaft Kapital – Fabriken, Lagerhallen, Rohstoffe. Trotzdem ist GM nicht unter den ersten vierzig Unternehmen an der Börse in New York. Nike dagegen sieht auf dem Papier gar nicht gut aus: Es hat die gesamte Produktion an Firmen in Südostasien ausgegliedert. Was ist Nike? Eine Marke, ein Konzept, ein Image, ein Mechanismus für Marketing und ein Design-Studio. Nike hat realisiert: Wenn jemand einen Nike-Schuh will, dann bezahlt er tatsächlich für die Nike-Erfahrung. Der Schuh muss in Ordnung sein, aber wofür die Kids wirklich zahlen, ist die Story, die mit dem Schuh geliefert wird.
Wie sieht die Welt der „Netzwirtschaft“ oder „Zugangswirtschaft“ konkret aus?
Nehmen Sie das Beispiel Ford: Heutzutage sind schon ein Drittel aller US-Autos geleast. Wenn es nach Ford ginge, würden sie lieber nie wieder ein Auto verkaufen. In 20 Jahren wird kaum mehr jemand Autos besitzen, außer den Liebhaberautos. Jeder wird in Auto-Netzwerken sein. Bisher war der einzige Kontakt des Kunden mit Ford, wenn er das Auto kaufte. Die übrige Zeit hatte Ford mit ihm nichts zu tun. Aber Ford hätte es viel lieber, wenn Sie rund um die Uhr für das Erlebnis Autofahren zahlen.
Warum sollte ich das tun?
Was Ford wirklich will, ist Ihre Zeit: Sie wollen nicht mehr nur das Produkt verkaufen, sondern Sie so lange wie möglich bei sich behalten. Wie wäre es mit billigerem Benzin? Mit Reparaturen? Mit Inspektionen? Versicherungen? Freies Parken in allen Städten? Autowäsche? Ford könnte Ihnen das Rundum-sorglos-Paket anbieten, indem es mit den anderen Dienstleistern die Einsparungen teilt und seinen Profit daraus bezieht, dass Sie ein rundum zufriedener und ewiger Kunde bei Ford sind.
Von der ökologischen Seite her ist es eine gute Idee, nicht alle Sachen zu kaufen, sondern sie zu mieten. Das spart eine Menge Material und Energie.
Die Sache ist zweischneidig. Natürlich hat der Gegensatz Mein gegen Dein die Menschen lange gegeneinander aufgebracht. Da könnte uns die neue Entwicklung von der Idee des Besitzens befreien. Aber man kann es auch andersherum sehen: Durch Eigentum entwickelt man eine eigene Geschichte, eine Identität. Und mit dem Besitzen kommt auch ein Verantwortungsgefühl: Menschen, die etwas besitzen, gehen vorsichtiger damit um.
Aber eine Firma, die sich auf Vermieten spezialisiert, kann mit ihrem Produkt effektiver umgehen als eine Privatperson.
Das stimmt. Das beste Beispiel ist die Firma Carrier, die Anlagen für Klimaanlagen herstellt. Bisher haben sie immer nur die größten Klimaanlagen verkauft, die sie loswerden konnten. Energieverbrauch, Veränderung der Ozonschicht, Klimaerwärmung – bares Geld für sie. Doch jetzt bewegen sie sich in Richtung Kühlservice. Den Kunden ist die Anlage egal, sie wollen einfach kühle Luft. Also installiert Carrier genau die passende Klimaanlage, die möglichst wenig Energie verbraucht, weil sie für die Energie zahlen. In der Netzwirtschaft ist der Produzent immer für sein Produkt verantwortlich.
Aber die wirtschaftlichen und ökologischen Probleme bleiben bestehen.
Ja, an der Klimaerwärmung, dem Verschwinden von Biotopen und Arten und der Wasserknappheit wird sich nichts ändern.
Hinter all der Servicegesellschaft gibt es immer noch die reale Wirtschaft. Die Schornsteine werden nur verlagert.
Die alten Wirtschaften verschwinden nicht, sie werden nur teilweise an den Rand verlagert. Immerhin lebt noch über die Hälfte der Weltbevölkerung in der Agrargesellschaft von vor 10.000 Jahren.
Ausbeutung bleibt also auch im Computerzeitalter ein Thema.
Das Industriezeitalter hat die biologische und physikalische Welt bis an die Grenze der Belastbarkeit ausgebeutet, um daraus Produkte und Dienstleistungen für eine kapitalistische Wirtschaft zu machen. Auf dem Weg zur Netzwirtschaft beuten wir eine andere Ressource aus: Das kulturelle Erbe der Menschheit aus tausenden von Jahren, das in bezahlte Stückchen aufgearbeitet wird, die man sich gegen Lizenzen und Mitgliedschaften ins Haus holen kann. Im 20. Jahrhundert waren die großen Player die Handels- und Erdölunternehmen wie Sears oder Exxon. Im 21. Jahrhundert sind es die Medienkonzerne wie TimeWarner, Disney, Seagram oder AOL.
Denen man kaum entkommen kann.
Die Machtkonzentration in Netzwerken ist durch die Möglichkeit, Ideen zu kontrollieren, weitaus größer, als sie in der Marktwirtschaft jemals war. Aber es gibt auch eine kulturelle und soziale Dimension: Wenn Sie eines Tages aufwachen und praktisch jede Beziehung außerhalb der Familie eine bezahlte Erfahrung ist. Das ist für viele eine böse Utopie. Die Frage ist: Kann die Zivilisation überleben, wenn unsere gesamte Zeit langsam, aber sicher kommerzialisiert wird? In der Marktwirtschaft gab es immer noch freie Zeit für die Familie, für die Kultur.
Wo ist in dieser neuen Welt der Platz der Politik?
In der Marktwirtschaft definieren wir Freiheit als wirtschaftliche Autonomie. Die Rolle der Regierung bestand darin, das Eigentum zu schützen, damit man frei sein kann. Das ist das Konzept der bürgerlichen Revolution. Heute wird der Begriff der Freiheit neu definiert. Für die Kids in der Dot.com-Welt ist die Autonomie der Tod. Sie wollen angebunden sein. Freiheit heißt für sie, nicht ausgeschlossen sein von den Computer- und Wirtschaftsnetzen. Die Regierung muss sicherstellen, dass die Bürger diese Chance auf Zugang haben.
Zum Kapitalismus gab es immer Gegenentwürfe wie den Kommunismus. Wo soll der Widerstand gegen die neue Netzwirtschaft herkommen?
Es gibt immer eine Gegenreaktion. Jetzt heißt der Slogan: Geographie zählt, Kultur ist wichtig. Denken Sie an die Unruhen bei der WTO-Tagung in Seattle oder den Protest gegen Genfood in Europa. Eine große Bewegung am Ende des 20. Jahrhunderts war, die Artenvielfalt zu retten, und die Frage, wer kontrolliert die Produktionsmittel und das Eigentum. Im 21. Jahrhundert ist die Frage, wie retten wir die kulturelle Vielfalt.
Wer oder was bedroht denn die Kultur?
Es ist der Kampf zwischen Kultur und Kommerz und wie man die beiden in einer Balance hält. Kultur ist das, wo die immanenten, eigenen Werte liegen. Aber wirtschaftliches Handeln gründet sich auf Erwägungen der Nützlichkeit. Das ist auch der Grund, warum die Idee vom dritten Weg, die Clinton und Blair favorisieren, nicht funktioniert. Diese Theorie geht davon aus, dass man eine mitfühlende Wirtschaft braucht, um eine lebenswerte und vitale Gemeinschaft und Gesellschaft zu gründen. Damit aber zäumen sie das Pferd von hinten auf. Sie glauben, erst kommt der Handel, dann die Kultur. Aber das ist völlig falsch. Ich glaube, dass immer erst die Kultur kommt, und dann die Wirtschaft. Es gibt kein Beispiel in der Geschichte, wo die Menschen erst kommerzielle und dann kulturelle Beziehungen aufgebaut haben.
Warum ist die Kultur für Sie so wichtig? Sie kostet Geld und schafft nur wenig Arbeitsplätze.
Der ökonomische und politische Raum beruht darauf, dass es in der Gesellschaft genug soziales Kapital, Kultur, gibt. Das sieht man in Osteuropa. Viele westliche Unternehmen sind dort gescheitert, weil der dritte Sektor – alles was nicht Wirtschaft oder Regierung ist: Sport, Kirchen, NGOs, Kunst, ehrenamtliche Tätigkeit –, weil dieser Sektor kaum vorhanden war. Und man braucht erst das Vertrauen, das dieser Sektor zwischen den Menschen begründet, um Wirtschaftsbeziehungen aufzubauen. Es ist genauso möglich, die kulturelle Artenvielfalt zu zerstören wie die biologische. Und wenn wir die kulturelle Artenvielfalt verlieren, indem wir sie verpacken und zu einer bezahlbaren Ware machen, dann riskieren wir das gesamte Experiment, das man Zivilisation nennt. Ich glaube nicht, dass sich eine Gesellschaft nur auf kommerzielle Beziehungen gründen kann.
Die Unterhaltungsindustrie sägt also den Ast ab, auf dem sie sitzt?
Wenn erst die Kultur kommt, heißt das, dass die Wirtschaft zusammenbricht, wenn die Kultur zerstört wird. Wenn ich mit Unternehmensführern rede, verstehen sie das. Sehen sie sich die Weltbank an. 30 Jahre lang haben sie gesagt, wirtschaftliche Entwicklung muss vor der sozialen kommen. Sie haben Milliarden von Dollar in diese Riesenprojekte gesteckt, die nur die Unternehmen reicher gemacht haben. Jetzt macht Weltbank-Präsident Wolfensohn ein Mea Culpa und sagt: Vielleicht haben wir Unrecht, vielleicht kommt erst die kulturelle und soziale Entwicklung und dann die wirtschaftliche Erholung. Das ist ein erster Schritt.
Aber von der neuen Netzwirtschaft profitieren die armen Länder der Welt nicht. Sie haben keine Auffahrt auf den Datenhighway.
Es gibt einen unglaublichen Hype um E-Commerce. Die Realität ist: 52 Prozent der Weltbevölkerung haben noch nie einen Telefonanruf gemacht, 40 Prozent der Menschen haben keinen Stromanschluss. Diese Wirtschaft ist für die oberen 25 Prozent der Welt maßgeschneidert.
Der Graben zwischen Besitzenden und Habenichtsen wird immer größer.
In der Marktwirtschaft war die Unterscheidung, ob jemand das Eigentum an Produktionsmitteln besaß oder nicht. Im Zeitalter des Zugangs bleibt diese Trennung natürlich bestehen, aber sie wird noch vertieft durch den Unterschied zwischen denen, die ans Netz angeschlossen sind und denen, die draußen bleiben. Die Entfernung zwischen den oberen 20 Prozent, die sich mehr und mehr im Cyberspace aufhalten, und den 80 Prozent, die das nicht können, ist weit größer als nur die geographische. Das ist das Rezept für sozialen Sprengstoff und unglaubliche soziale Unruhen. Was eine Gesellschaft zusammenhält, ist Intimität und Empathie, das Mitfühlen. Kommerzielle Beziehungen sind per definitionem nicht so. Sie sind auf Nützlichkeit angewiesen.
Wer soll denn die Kultur vor der Wirtschaft retten? Wenn die Regierung nicht kann, die Wirtschaft nicht will und die Kultur gerade geschluckt wird?
Das ist das Problem. Die Kultur muss sich aus der Kolonisierung befreien und wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückkehren. Ich weiß nicht, ob das klappt. Wenn nicht, übernimmt der vierte Sektor das Ruder – Schwarzmarkt und Kriminalität. Das sieht man in Russland.
Kann Europa den USA in diesem Kulturkampf die Stirn bieten?
Europa wird möglicherweise entscheidend in dieser Entwicklung sein. Als Fremder in Europa kann ich es praktisch riechen, wenn ich aus dem Flugzeug steige. Kultur kommt immer noch vor der Wirtschaft. Bei den meisten Europäern geht die kulturelle vor der kommerziellen Identität. Wirtschaft ist wichtig für jedermanns Leben, aber es definiert nicht völlig, wer die Menschen sind. In den USA und inzwischen auch in Japan ist es eher das andere Extrem. Wer wir sind, definieren wir über unsere kommerzielle Tätigkeit. Das war mal anders, wir hatten hier eine der stärksten Zivilgesellschaften der Welt, aber sie wurde zerstört und von der Ökonomie geschluckt.
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