: Der steinerne Gast
Für die Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen den Völkern, Rassen und Religionen: Ivan Nagel wird heute im Konzerthaus Berlin der Moses-Mendelssohn-Preis verliehen
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Wie Intoleranz das eigene Leben, Lieben und Lernen bedrohen kann, gehört zu den Erfahrungen, die Ivan Nagel, geboren 1931 in Budapest, in seiner Jugend gleich mehrfach erlebte. Mit dreizehn musste er als Kind einer untergetauchten jüdischen Familie unter falschem Namen leben, und „das war besonders schlimm, denn unter falschem Namen zu leben hieß ja, dass es einen nicht geben durfte“.
Drei Jahre später, 1948, fühlte er sich unter den Kommunisten als „Bürgersohn“ abgestempelt, der nicht studieren durfte. Sieben Jahre verbrachte er als „Staatenloser“ und studierte Philosophie bei Theodor W. Adorno in Frankfurt. Einmal war der Tag schon festgesetzt, an dem er als „unerwünschter Asylant“ abgeschoben werden sollte. „Wenn man dann noch entdeckt, dass man als Homosexueller wieder strafbar ist, dafür, was man ist, in dem Land, das man zum Leben gewählt hat, dann ist es kein Verdienst, sich gegen Intoleranz zu wenden, sondern im prosaischsten Sinn im eigenen Interesse“, sagt Ivan Nagel im Rückblick auf einen weg, auf dem immer neue Barrieren zu überwinden waren.
Kulturpolitik beraten
Heute erhält der Theatermacher Ivan Nagel den Moses-Mendelssohn-Preis, der für die „Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen den Völkern, Rassen und Religionen“ von der Stadt Berlin verliehen wird. In Berlin ist Nagel als ein Ratgeber der Kulturpolitik wichtig geworden, den zu überhören für die Politik immer peinlicher wird. 1987 war er als Professor für Theatergeschichte an die Hochschule der Künste gekommen. Als er nach der Wiedervereinigung um ein Gutachten über die Theatersituation Berlins gebeten wurde, galt es für ihn vor allem, die Theaterkultur der DDR vor einer westlichen Vereinnahmung zu bewahren. Auf seine Vorschläge gehen die Intendanzen von Frank Castorf an der Volksbühne und von Thomas Langhoff am Deutschen Theater zurück und der Versuch, Heiner Müller und Peter Zadek am Berliner Ensemble zusammenzubringen.
Doch darüber hinaus mahnte er eine Neukonzeption der Theaterlandschaft an, die bis heute nicht auf den Weg gebracht ist. Den Politikern Berlins, die sich mit dem Ruf seines Namens schmücken wollten, muss er nun wie der steinerne Gast aus Mozarts Oper Don Giovanni vorkommen, von dem man nie weiß, wann er wieder aus den Kulissen tritt.
An einem geforderten Konzept, den drei Opernhäusern endlich unterschiedliche Profile zu verpassen, laboriert der Senat heute noch genauso unglücklich wie vor zehn Jahren. Nagel wird nicht müde, den Finger auf die Schwachstellen zu legen und für die heruntergewirtschafteten Häuser des Schiller-Theaters und der Freien Volksbühne Pläne zu verlangen. Mit dem Rat der Künste setzt er sich für eine Verschiebung der Gewichte zwischen den institutionalisierten Hochburgen und kleineren Initiativen ein und kritisiert vernehmbar, wenn statt strukturellen Überlegungen wieder Personalpolitik hinter verschlossenen Türen betrieben wird.
Berlin kennt oft kein anderes Thema als sich selbst. Ivan Nagel schon. Nicht umsonst war er Intendant in Hamburg und Stuttgart und hat Feste wie das „Theater der Welt“ ins Leben gerufen. Sein Ideal eines weltoffenen Theaters hat nichts mit dem „Import fertiger Weltruhmträger“ am Hut, die gut ins Marketing einer Stadt passen, sondern mehr mit einer Kultur der Differenzen und der Vielsprachigkeit.
Das andere lieben
Ivan Nagel wuchs zweisprachig auf (Ungarisch und Deutsch), bis seine Eltern beim Anschluss Österreichs an Nazideutschland die deutsche Sprache aus ihrem Alltag strichen. Mit sechs lernte er Englisch, mit neun Französisch, bis dahin die Geheimsprache der Eltern, die sich ab dann auf Tschechisch oder Slowakisch stritten. Kein Wunder, dass eine solche Sprachenvielfalt einen anderen Appetit auf das Fremde weckte, als das Versprechen einer globalen Kultur, die alles mit dem Schlüssel einer einzigen Sprache aufschließen zu können vorgibt.
Die Lust „das andere und nicht das eigene zu lieben“ ist Antrieb des Theatermachers geblieben. Dass heute ein „Routine-Erholungs-Tourismus die Neugierde auf andere Länder ersetzt“, kreidet er einer Politik als Versäumnis an, die Europa nur als wirtschaftliche Einheit und nicht als kulturellen und historischen Raum begreift. Europa als Idee umfasst für ihn die Geschichte eines „Erdteils, der Schauplatz und oft auch Ausgangspunkt der grässlichsten Massakern unter den Völkern war und jetzt die Chance hat, einer Einheit zuzustreben“. Wenn er in seinen Büchern über Mozart und Goya und in vielen Essays die Zeit der Aufklärung und der französische Revolution in den Blick nahm, dann ging es ihm auch um die Ambivalenz zwischen befreienden Kräften und der Entstehung von neuen totalitären Herrschaftsformen. Das Wissen darum erscheint ihm notwendiger denn je angesichts der „nationalistischen Bürgerkriege in den neu befreiten und der eigenen institutionellen Form auch beraubten Länder“ Mitteleuropas.
Anfang der Neunzigerjahre hat Nagel Initiativen angeschoben, die Durchlässigkeit Europas zu stärken. Er setzte sich dafür ein, dass Bibliotheken in Osteuropa Bücher bekamen, für deren Kauf sie kein Geld hatten. Mit Theaterleuten, die auch noch mit „Max Reinhard und Leopold Jessner als Urahnen aufgewachsen“ waren, reklamierte er eine größere Öffnung Deutschlands für jüdische Einwanderer. Mit der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung plädierte er dafür, mehr Bildungs- und Forschungsmöglichkeiten für junge Künstler und Wissenschaftler zu schaffen. Zufrieden mit den Ergebnissen ist er keineswegs, denn aufhalten ließ sich der Abbau von Austauschprogrammen nicht.
Diese Versäumnisse als endgültige zu akzeptieren, weigert sich Nagel. „Man muss noch einmal neu ansetzen, zu fragen, was man tun kann“, beharrt er auf seinen Hoffnungen. Die Verleihung des Moses-Mendelssohn-Preises aber stärkt ihm den Rücken in diesen Gefechten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen