: Tod in einem Moment
■ Freispruch für Erzieherinnen, die ein Kind kurz unbeaufsichtigt gelassen hatten
Der Moment war kurz, aber trotzdem zu lang. Vielleicht waren es drei Minuten, die der kleine Azmi unbeaufsichtigt blieb, vielleicht ein wenig länger. Er lief zur Rutsche, kletterte hoch, blieb mit einer Kordel seines Anoraks hängen und strangulierte sich selbst. Das war im Dezember 1997. Ges-tern entschied das Hamburger Landgericht, dass Kindergärtnerinnen ihre Schützlinge auf einem Gelände, das extra für Kleinkinder hergerichtet ist, nicht jede Sekunde in den Augen behalten müssen. Die beiden angeklagten Erzieherinnen Gabriele B. und Martina B. wurden vom Vorwurf freigesprochen, fahrlässig den Tod des kleinen Jungen verursacht zu haben.
Das Amtsgericht in Harburg hatte im Februar noch anders geurteilt. Die damalige Richterin hatte den Erzieherinnen vorgeworfen, ihre Aufsichtspflichten verletzt und dadurch den Tod des kleinen Jungen fahrlässig herbeigeführt zu haben: „Sie sind schuld am Tod des Kindes.“ Ihnen das mit auf den Weg zu geben, war der Richterin aber Strafe genug. Die Geldstrafe, die sie verhängte, wurde zur Bewährung ausgesetzt und brauchte nicht bezahlt zu werden.
Die Erzieherinnen hatten gegen ihre Verurteilung Rechtsmittel eingelegt. Sie hätten die Kinder fürsorglich betreut, wandten sie ein, zu zweit könne man 18 Kinder aber nicht pausenlos beobachten. Das Landgericht gestand ihnen nun zu, dass sie ihre Aufsichtspflichten nicht verletzten. Das Gelände der Wilhelmsburger Kita sei für Kleinkinder geeignet, weswegen man diese für kurze Momente aus den Augen lassen dürfe. Und selbst wenn das Gericht zu dem Schluss gekommen wäre, dass die ErzieherInnen ihre Pflichten vernachlässigt hätten, hätte es diese freigesprochen, fügte der Richter hinzu. Denn dass eine Anorakkordel sich am Gerüst verfängt, liege „außerhalb der Lebenserfahrung“. Zumindest damals sei diese Gefahrenquelle noch nicht bekannt gewesen.
Womöglich wird der Tod des kleinen Azmi noch eine weitere Instanz beschäftigen. Der Anwalt seines Vater, der als Nebenkläger auftrat, hat Revision angekündigt. Auf den jetzigen Freispruch reagierte der Vater gefasst. Im Februar hatte er den Erzieherinnen im Gerichtssaal zugerufen: „Sie brauchen eine Strafe, an die Sie lebenslang denken.“ Elke Spanner
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