: Am Ende des Regenbogens
Ein gemeinsamer äußerer Feind schweißt immer zusammen. Was aber, wenn sich eine so eingeschworene wie die homosexuelle Gemeinschaft plötzlich von lauter Freunden umzingelt sieht? Verlieren in den Hochzeiten von Gaypride und Homo-Ehe die Symbole der Solidarität ihre politische Bedeutung? Erfahrungen
von KLAUDIA BRUNST
Nein, ich dachte am Anfang nicht, ich sei ganz allein damit. Dass es das gab, besser: dass es sie gab, war durchaus schon bis zu mir durchgedrungen. Ich bin Jahrgang 1964. Als ich in die Pubertät kam, hatte das Thema Homosexualität dann doch schon seinen Weg in die rheinische Provinz genommen. Die Gretchenfrage war eine andere: Ob ich zu ihnen gehören würde?
Die Soziologie beschreibt das homosexuelle „Coming-out“ als jenen individuellen Vergegenwärtigungsprozess, in dem sich die „Betroffenen“ über ihr Betroffensein bewusst werden, und unterteilt diesen Vorgang in zwei aufeinander folgende Phasen: Zunächst geht es um die Selbstvergewisserung, um das In-sich-Hineinhören, die zunächst verwirrende, später im besten Fall euphorisierende Erkenntnis, anders zu fühlen als die „normale“ Umgebung. Ist diese Hürde erst einmal genommen (und das kann dauern!), drängt die neue Erkenntnis danach, angewandt zu werden. Nach dem inneren Coming-out folgt das äußere: Wie sag ich’s meiner Mutter? Wie wird meine beste Freundin reagieren? Was wird aus meinem bisherigen Leben? Wo finde ich Gleichsinnte?
Wie alle Novizen schoss auch ich zunächst weit über das Ziel hinaus. Im Hochgefühl der einen Identätsfindung war mein Sendungsbewusstsein nicht zu bremsen. Mit radikalem Eifer setzte ich Zeichen, wo immer es ging: auf dem Schulranzen, am Jackenrevers, später dann auf der Heckklappe des Autos, am Briefkasten.
Dabei war es in diesen ersten Jahren – wir befinden uns am Anfang der Achtziger – noch gar nicht so einfach, die passende Zeichensprache zu finden. Das feministische Lesbensymbol mit den zwei ineinander verschlungenen Frauenzeichen war, wie sich herausstellte, nicht so eindeutig, wie ich es mir erhofft hatte: Etliche heterosexuelle Feministinnen deuteten die Symbolik für ihre Zwecke um in „Frauen gemeinsam sind stark“. Das führte dann im Frauenzentrum zu manch lustigem Missverständnis, aber eben nicht zu dem ersehnten Gemeinschaftsgefühl. Die Doppelaxt mit ihrer mythologischen Aura vom Amazonenkrieg war mir eher suspekt: War ich nicht soeben um des Friedens willen auf den Bonner Rheinwiesen gewesen? Weil Red Ribbon und Regenbogenfahne noch nicht zu uns gedrungen waren, blieb also nur der rosa Winkel. Shocking!
Das Nazisymbol gab es als kleine emaillierte Anstecknadel in gut sortierten linken Alternativbuchläden zu kaufen, und es erfüllte, diskret am Revers getragen, auf ziemlich straighte Weise seinen Zweck: Es grenzte ab. Die Gesprächsdynamik war von verlässlicher Brutalität: „Was hast du denn da?“ – „Das ist ein rosa Winkel.“ – „Ist das nicht ein KZ-Symbol?“ – „Richtig. Das haben die Nazis den Schwulen an den Drillich geheftet.“ – „Und warum trägst du das?“ – „Weil ich lesbisch bin.“ Das saß. Wehe, du diskriminierst mich, hieß es. Wehe, du grenzt mich aus. Versuche es nur! Ehe du dich versiehst, grenze ich dich aus. Wage es nur, du Faschist!
Erst allmählich, als ich in meiner neuen Lebensgemeinschaft heimisch geworden war, verlor sich dieser selbstquälerisch anklagende Impuls, mich selbst als Ausgegrenzte zu stigmatisieren. Er wich einem neuen, selbstbewussteren, lustvolleren Lebensgefühl, das nun immer weniger nach außen orientiert war. Ich hatte beschlossen, meine lesbische Existenz genießen zu wollen, und lernte die Subkultur als kleine, feine, manchmal verrückte, oft ziemlich piefige Heimat schätzen.
Mit diesem Perspektivenwechsel änderte sich auch meine Einstellung zu den Symbolen. Nicht, dass ich nun auf die Idee gekommen wäre, die zur Vagina geformten Hände auf meinen Motorradtank zu kleben. Aber ich bewunderte die Frauen, die es taten, sich also für alle sichtbar nicht etwa zu ihrer Stigmatisierung, sondern zu ihrer Sexualität bekannten. Zugegeben, zu diesem Spiel gehörte auch, dass die „Normalos“ dieses doch höchst intime Symbol nicht deuten konnten.
Überhaupt hatte ich lernen müssen, wie viel wichtiger es war, nach innen Zeichen zu setzen, als nach außen zu agitieren. Kaum hatte ich angefangen, ein Homosymbol zu tragen, um „die Gesellschaft“ auf meine Veranlagung aufmerksam zu machen, gaben sich in meiner engeren Umgebung Schwule und Lesben als solche zu erkennen: Lehrer, Vereinsmitglieder, Nachbarn, Taxifahrer – Menschen, die ich schon lange kannte oder sonst nie kennen gelernt hätte. Zu meiner Verblüffung hatten sie längst begriffen, was mir erst vor kurzem bewusst geworden war. Meine Frisur, mein Habitus hatten ihnen meine lesbische Identität signalisiert. „Na endlich!“, begrüßten sie mich nun. „Willkommen im Club.“
Eine Weile noch blieb der Club eine verschworene Gemeinschaft, die sich als urbane Elite verstand und sich das alltägliche Leben wunderbar leicht machte. Welcher Sportclub? Natürlich der schwule Turnverein „Vorspiel“. Welche Zahnärztin? Natürlich die lesbische, auch wenn der Weg dorthin weiter sein würde! Welche Disko, Bar, Buchhandlung? Natürlich die in der Subkultur.
Dann aber kam Aids, und alles wurde anders. Ernster, bedrohlicher und wieder agitatorischer. Mit Aids kam die rote Schleife, die ich als Lesbe aber mit einem anderen Bewusstsein trug. Es war ein Zeichen der Solidarität, nicht der eigenen Betroffenheit. Kein Erkennungszeichen, sondern eines, das sich wieder an die Außenwelt richtete. „Was ist das?“ – „Das ist der Red Ribbon, ein Symbol für die Aids-Opfer.“ – „Warum trägst du das?“ – „Weil es eine wichtige Sache ist.“ Aids brachte uns Act-up und Queerbewegung, Rosa von Praunheims Comeback und eine eigene kleine Outing-Welle. Der Begriff Coming-out verlor sich über diese Aktionen, heute wird das Bekenntnis homosexueller Prominenter in der Presse gerne mit dem Unwort Selbst-Outing bezeichnet.
Zur gleichen Zeit wie die rote Schleife tauchte – ebenfalls aus Amerika kommend, genauer aus San Francisco – wieder ein Symbol auf, das sich nach innen richtete und in den Hochzeiten der Anti-Aids-Kampagnen international Karriere machte. Inzwischen hat die Regenbogenflagge alle anderen Symbole in ihrer universellen Bedeutung abgelöst. Sie ist zum globalen Zeichen homosexueller Vielfalt geworden.
Seit Mitte der Neunzigerjahre explodierte dann die Subkultur. Bars und Cafés schossen wie Pilze aus dem Boden, in den Gay-Metropolen Berlin, Köln, Hamburg erstrahlten nun ganze Stadtviertel in regenbogenfarbenem Licht. Schwule Politiker, lesbische Schauspielerinnen, homosexuelle Polizisten und Krankenschwestern, Tunten und Dragkings zeigten sich. Waren wir vor zehn Jahren noch ein paar Tausend auf den Homopride-Demonstrationen gewesen, sind es jetzt Millionen. Die Transparente sind Mottowagen gewichen, die universelle Nestwärme hat sich in identitätsstiftende Kleingruppen verflüchtigt. Seit es wirklich Vielfalt gibt, parzelliert sich die Solidarität. Ob ja oder nein zur Homoehe, ob lesbischer Babyboom oder Promiskuität, Tunte oder Schranklesbe: Unter der Regenbogenflagge ist viel Platz – auch für Zwist. Je größer das Terrain wird, das uns „die Gesellschaft“ einräumt, desto mehr sind wir gefordert, unsere territorialen Ansprüche auszuformulieren und lebbar zu machen. Da hilft es nicht mehr, nur die Regenbogenflagge zu hissen.
Die Zeichensprache funktioniert nicht mehr, wenn man es auch laut sagen kann. Auch das ist keine wirklich neue Erkenntnis. Andere Communitys haben bereits ähnliche Erfahungen gemacht. Insofern haben die Errungenschaften der homosexuellen Emanzipationsbewegung zu der erwartbaren Entsolidarisierung geführt. Wenn alle einen Regenbogen auf der Heckklappe haben, dann ist der Zauber der Symbolik rasch verflogen.
Mitten im gay-liberalen Kreuzberg wohnend, hatte ich deshalb schon ernstlich darüber nachgedacht, meine Flagge wieder vom Auto zu kratzen und bis auf weiteres im Meer der namen- und identitätslosen Opelfahrer zu verschwinden. Bis ich unlängst auf meiner ersten New-York-Reise an meinem ersten Morgen in der Neuen Welt inmitten des Village aufwachte und mir die Augen rieb. Flaggen, so weit das Auge reichte: Auf Eingangstüren und Autoklappen, vor Bars und in Deli’s. Ich war eine halbe Nacht über den Atlantik geflogen und zu Hause gelandet. Die Millionenmetropole New York war überschaubar geworden. Die alte Logik, hier funktionierte sie wieder: Welche Bar? Welcher Diner? Welcher Drugstore? Keine Frage!
Es ist mit dem Homopride wie mit dem Coming-out: Ohne ein befremdliches Außen definiert sich das heimatliche Innen nicht. Habe nun doch beschlossen, meine Flaggen dort zu lassen, wo sie sind. Und wenn es nur für die Touristen aus Übersee wäre.
KLAUDIA BRUNST ist seit je bekennende Sandkastenlesbe. Die ehemalige taz-Chefredakteurin lebt als freie Journalistin in Berlin
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