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„Egoismus ist sehr anstrengend“

Norbert Blüm glaubt, dass auch die New Economy nicht auf Solidarität verzichten kann. Aus purem Eigeninteresse. Denn wer nur noch rechnet, wird nicht glücklich. Das wusste schon sein kommunistischer Onkel Adolf

Interview PHILIPP GESSLER

taz: Herr Blüm, Sie haben einmal gesagt, Sie würden jedes Jahr an Heiligabend mit Ihrem Bruder am Grab Ihres kommunistischen Onkels Adolf stehen und die Internationale singen. Was, glauben Sie, würde Ihr Onkel zur heutigen Weltwirtschaft sagen?

Norbert Blüm: Da müssen Sie ihn selber fragen – aber die Verbindung ist relativ schwer, in den Himmel nämlich. Denn so, wie er gelebt hat, vermute ich ihn dort. Er würde sich mit der Ungerechtigkeit auf der Welt nicht einverstanden erklären.

Was würde ihn besonders aufregen?

Dass auf der einen Seite auf der Erde die Leute in Wohlstand leben und auf der anderen in Elend. Und das mit den Seiten ist noch eine Verharmlosung. Denn 20 Prozent der Weltbevölkerung lebt von 80 Prozent der Güter der Erde und 80 Prozent von 20 Prozent. Das wird ja hoffentlich niemand als Ausfluss von Gerechtigkeit betrachten. Das kann auch nicht mit Fleiß begründet werden. So viel fleißiger sind die in den Wohlstandsländern nicht. Und selbst dort gibt es ein Gefälle, das nicht mit Gerechtigkeit begründet werden kann. Ich bin gegen die Gleichmachererei, aber so, wie der Abstand ist, dass die einen – was Sie an mir studieren können – an Fettsucht leiden und die anderen an Schwindsucht, dann ist die Gesellschaft krank.

Gibt es denn im Zeitalter der Globalisierung überhaupt noch die Möglichkeit, solidarisch zu handeln?

Das ist, glaube ich, die große Preisfrage der Zukunft. Da ich Anhänger der sozialen Marktwirtschaft bin und nicht einer wild gewordenen, von der Kette gelassenen Wettbewerbswirtschaft, weiß ich, dass dieser Wettbewerb Spielregeln braucht. Da wollen wir noch gar nicht von Gerechtigkeit, sondern allein von Fairness reden. Die klappt schon beim Fußballspiel nicht ohne Spielregeln, geschweige denn in der Wirtschaft. In der sozialen Marktwirtschaft setzt der Staat den Ordnungsrahmen. Wer setzt ihn in der Weltwirtschaft? Ich träume nicht davon, dass anstelle des nationalen Staates jetzt der Weltstaat entsteht – wird auch nicht. Aber Spielregeln, einen Ordnungsrahmen, bei dem keiner den anderen übervorteilt, den brauchen wir.

Wie könnten diese Regeln denn aussehen?

Die müssten erstens die internationale Finanzwelt mit einem Regelwerk überziehen, das ein wildes Spekulantentum nicht in die Lage versetzt, aus Lust und Laune ganze Volkswirtschaften auszuhebeln. Zweitens: So wie wir es ja auch in der Nationalökonomie für wichtig halten, dass es eine Kartellgesetzgebung verhindert, dass es zu Monopolen kommt, die gar nicht mehr auf den Wettbewerb reagieren wollen, brauchen wir auch bei Fusionen Spielregeln. Es kann nicht sein, dass man sich den Firmensitz gerade danach aussucht, welche Regierung gerade am nachgiebigsten ist.

Wer soll diese Regeln installieren?

Wir haben ja internationale Organisationen, die ihre Aufgabe konkreter fassen müssen. Ich sehe beispielsweise, dass die Internationale Arbeitsorganisation noch einen Großteil ihrer Zeit mit Proklamationen verbringt, die so viel wert sind wie das Papier, auf dem sie gedruckt sind. Spielregeln ohne Sanktionen sind stumpfe Schwerter. Also brauchen wir Sanktionen. Das gilt für die Internationale Arbeitsorganisation, für die Welthandelsorganisation und den IWF. Wir haben ja Ansätze. Wir fangen ja nicht bei null an. Aber die brauchen eine größere Sanktionsmacht, auf die man sich verständigen muss. In der Entwicklungspolitik haben wir Sanktionen in der Hand. Ich sehe es nicht ein, dass wir Staaten entschulden sollen, die ihr Geld zum Fenster hinauswerfen, indem sie Waffen kaufen, obwohl das Volk nichts zu fressen hat. Oder Länder, die in Korruption versinken. Ich sehe keinen Grund, die zu unterstützen. Äthiopien hat in der gleichen Zeit, in der Millionen mit dem Hungertod kämpften, seinen Militärhaushalt verdoppelt.

Sie gelten als „Herz-Jesu-Marxist“. Ich weiß nicht, wie Sie mit diesem Titel umgehen ...

... Titel sind wie Etiketten – und die gehören auf Flaschen. Ich bin keine Flasche.

Bleiben wir bei dem Marxisten: Ist Marx angesichts globaler Kapitalakkumulation und zunehmender Ausbeutung nicht aktueller denn je?

Ich bin kein Marxist, stehe auch nicht in Versuchung, es zu werden. Marx hat die richtigen Fragen gestellt, aber seine Antworten waren falsch. Dass die materiellen Verhältnisse die Grundlage aller Bewegungen sind, würde ich gegen Marx bestreiten. Der Sozialismus ist nicht allein aus wirtschaftlichen Defiziten zusammengebrochen. Der hat sein Waterloo in Danzig erlebt auf der Leninwerft. Die Leute hatten weder eine wirtschaftliche noch eine militärische Macht, die hatten nur eine Idee, die Idee der Freiheit. Das hat aus meiner Sicht Marx unterschätzt. Vor allen den Freiheitswillen jedes Einzelnen. Der hat doch sehr stark in kollektiven Kategorien gedacht, die aus meiner Sicht die Welt nicht ausreichend erklären können.

Sie kommen aus der katholischen Soziallehre. Da ist eines der Grundprinzipien: Eigentum verpflichtet. Doch lässt sich die Macht des Kapitals so noch bändigen?

Ich glaube, dass jene Management-Philosophie, die das Unternehmen nur noch als Kapital-Sammelstelle begreift, auch betriebswirtschaftlich nicht die klügste ist. Denn Arbeitnehmer, die sich nicht mit ihrem Unternehmen identifizieren, die werden auch nicht motiviert sein. Wenn die nur noch sitzen, um auf den nächsten Schlag zu warten, gibt es keine Identifikation. Das hat das alte Handwerk – Sie sehen, ich bin ein Nostalgiker – stark gemacht: dass ein Handwerksbetrieb sich immer als Familienbetrieb verstanden hat, der auch in schlechten Zeiten zusammenhält. Eine Management-Philosophie, die nur noch am Kurswert orientiert ist, die wird auf etwas verzichten müssen, was auch betriebswirtschaftlich ein Minus ist, nämlich Motivation der Arbeitnehmer. Ich glaube, dass man erstens dieser Gefahr entgegentreten muss, indem die Arbeitnehmer Miteigentümer werden, dass man das Eigentum weit streut, und zweitens, dass wir eine Lohnpolitik betreiben müssen, die nicht nur auf den Teil des Sozialproduktes achtet, der konsumierbar ist, sondern auch auf jenen Teil blickt, der vernünftigerweise dem Konsum vorenthalten und der Investition zugeführt wird. Ein vernünftiger Mensch wird ja nicht alles, was erwirtschaftet wird, verfuttern – das wäre so dumm wie der Bauer, der sein Saatgut verfuttert. Es ist nicht einzusehen, dass die, die diese Investitionen mit erwirtschaften, weitgehend davon fern gehalten werden. Denn trotz zunehmendem Aktienbesitz – was ich begrüße – ist das Produktivkapital noch sehr einseitig verteilt.

Müssten da nicht die Gewerkschaften mehr Macht bekommen?

Die müssten vor allem eine intelligentere Tarifpolitik betreiben. Solange sie nur auf den Barlohn achten, sind sie immer zweiter Sieger: Holen sie sich zu viel heraus, gibt es entweder Inflation oder Entlassung, und sie sind real wenige Wochen nach dem Tarifabschluss so weit, wie sie vorher waren. Was heißt eigentlich fünf Prozent Lohnerhöhung, wenn nachher die Preise um sechs Prozent steigen? Ich halte es für eine Möglichkeit, dass man sich auf einen Kombilohn einigt: Man vereinbart einen Standardlohn, denn schließlich müssen die Arbeitnehmer ja wissen, von was sie leben – Lohn ist ja kein Lotteriespiel –, und vereinbart einen ertragsabhängigen Lohn, der beispielsweise auch in Beteiligungen genutzt wird.

Ist denn in Zeiten der New Economy, in der Start-up-Unternehmen in der Regel auf einen Betriebsrat verzichten, ein Begriff wie Solidarität in der Wirtschaft noch durchsetzbar?

Wenn sie darauf verzichtet, wird sie sich selber umbringen. Das können Sie an Beispielen deutlich machen: In Moskau sind die Chicago-Boys angetreten, indem sie den Reformern eingeimpft haben, sie bräuchten nur auf Gewinn und sonst nichts zu achten. Sie müssten nur den Wettbewerb von der Kette lassen. Mit dem Versprechen Wohlstand. Das Versprechen haben sie gehalten, allerdings nicht für alle. Den Wohlstand, der dadurch zustande kam, den können Sie an der Riviera und auf Zypern besichtigen. Dort, wo der Staat sich völlig zurückgezogen hat und wo die Unternehmen noch nicht mal Lohn gezahlt haben, dort brechen Betriebe zusammen. Das ist betriebswirtschaftlich dumm. Ich behaupte, dass Solidarität auch wirtschaftlich klug ist. Es ist nicht nur moralisch geboten, sondern auch wirtschaftlich vernünftig, sozial zu sein.

Die Arbeitnehmer haben den Betriebsrat oder die Gewerkschaften an ihrer Seite, die Arbeitslosen aber haben im Grunde niemanden, der sie wirklich unterstützt. Wie kann man heute Solidarität mit Arbeitslosen sicherstellen?

Man muss diesen Solidaritätsmaßstab nicht nur an die Unternehmer halten. Das ist nicht nur was für andere, sondern auch für die Arbeitnehmerbewegung selber. Und sicher gibt es heute nicht nur den alten Klassengegensatz, von dem Karl Marx gesprochen hat, nämlich zwischen Kapital und Arbeit. Der ist so, wie ihn Marx beschrieben hat, heute schon nicht mehr da – jedenfalls in der Form nicht. Es entstehen auch Interessen- oder Klassengegensätze zwischen den Arbeitsbesitzenden und den Arbeitslosen. Und der kann so hart sein wie der zwischen Kapital und Arbeit. Das Recht auf Arbeit ist nicht nur das Recht auf anständigen Lebensunterhalt. Das hat etwas mit Teilhabe zu tun. Solidarität ist eine Form von Teilhabe. Ich halte für die größte Gefahr, dass die ausgebildeten, qualifizierten Global Players immer Arbeit haben, auch wenn sie von Job zu Job hopsen. Während unsere Gesellschaft die Ungelernten abschreibt und sich dabei von ihrem schlechten Gewissen mit der Beruhigung entlastet: Das seien eben die Unangepassten, möglicherweise die Faulen. Ich wäre da mal ein bisschen vorsichtig. Nicht jeder, der keine PC bedienen kann, ist deshalb schon unbedarft. Seine Begabungen liegen vielleicht in den personennahen Dienstleistungen. Ich habe nichts gegen das Internet. Aber eine Liebeserklärung würde ich darin nicht verbreiten.

Nein?

Okay, vielleicht das gerade noch. Aber ein Bier können Sie darin nicht trinken. Und Freundlichkeit gibt’s darin relativ wenig.

Gleichzeitig entsolidarisiert sich doch offensichtlich die Gesellschaft insgesamt. Wie kann man noch erreichen, dass die, die am Rande sind, wie die Arbeitslosen und die Ungelernten, Solidarität erfahren?

Man muss aus meiner Sicht zwei Formen der Solidarität unterscheiden, und beide sind unverzichtbar: Einmal nach dem Fürsorgeprinzip „Einer für alle“ – das ist der alten Familie nachgebaut, dass man eben niemand verkommen lässt. Das andere Prinzip ist ebenso wichtig: „Wie du mir, so ich dir.“ Das verlangt natürlich auch die Anstrengung derer, die auf Solidarität pochen. Der gerechte Lohn ist keine Barmherzigkeitsveranstaltung. Solidarität hat nicht nur mit Gutmütigkeit zu tun. Das setzt ein Bildungssystem voraus, das jeden in die Lage versetzt, seinen Beitrag zu leisten. Bei den älteren Arbeitnehmern liegt deren Bildung wegen unseres Bildungssystems weit zurück. In einer schnelllebigen Wirtschaft, in der die Halbwertszeit von Innovation immer kürzer wird, sind die älteren Arbeitnehmer diejenigen mit der veralteten Ausbildung, weil wir in unserem Bildungssystem dem alten Vorurteil folgen, dass Bildung und Qualifikation nur etwas für das erste Drittel unseres Lebens sei – da haben wir eher zu viel Bildung, jedenfalls eine zu lange. Mit 20 Jahren einen Arbeitsplatz zu finden, wenn man gesund ist, das halte ich nach wie vor für nicht so schwer, wie es manche erklären. Aber als 50-Jähriger, entlassen möglicherweise mit dem goldenen Handschlag – da ist es schwerer, wieder unterzukommen. Das hat etwas mit Bewusstsein zu tun, zweitens mit einem Bildungssystem, das an Jugend gekoppelt ist. Sie sehen: Meine Antworten sind an keiner Stelle mit einem Patentrezept verbunden. Das sind tausend Schritte.

Woher schöpfen Sie Hoffnung, dass wir diese tausend Schritte gehen werden?

Eine Gesellschaft ist aus meiner Sicht ohne Solidarität nicht lebensfähig. Das ist nicht ein Luxus, den wir uns gönnen, wie das manche Ellenbogen-Techniker glauben. Denn den rundum starken Menschen kenne ich nicht. Also sind wir alle auf Ergänzung und Solidarität angewiesen. Ich habe noch kein Baby gesehen, das sich selbst ernährt. Da selbst große, starke Leute mal ein Baby waren und es ihnen auch wieder passieren kann, dass sie trotz viel Geld im Alter hilflos sind, gebietet es die Klugheit, eine Gesellschaft nicht zu spalten in Starke und Schwache. Viele sind einmal stark, ein andermal schwach.

Wie kann man die Einsicht in die Notwendigkeit von Solidarität in der Gesellschaft wieder stärken?

Ich bin ja ein aufklärerischer Optimist. Ich setze immer noch darauf, dass man mit Vernunft vieles erreichen kann. Und es ist vernünftig – nicht nur moralisch –, solidarisch zu sein. Im Übrigen, wenn das hilft, obwohl es als Begründung nicht ausschlaggebend sein kann, glaube ich sogar, dass solidarisches Handeln mehr Zufriedenheit schafft als egoistisches. Ich glaube, dass ein Egoismus sehr anstrengend ist. Man muss nämlich dauernd rechnen, was bringt mir was? Du bist dann nur noch Kalkulator deines eigenen Lebens. Das muss unheimlich anstrengend sein. Da gibt es sogar Untersuchungen, dass Menschen, die sich für andere einsetzen, zufriedener mit ihrem Leben sind, um nicht das große Wort „glücklich“ zu nutzen, als solche, die ständig nur daran denken, wie sie ihren Vorteil mehren können.

Braucht es dazu eines, wie immer gearteten, religiösen Fundaments?

Die Religion übertrifft die Vernunft. Ich halte die Vernunft zwar für notwendig, aber nicht für ausreichend. Gerechtigkeit ist nicht nur eine Mathematikaufgabe.

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