: Jeder ist sein eigenes Stück Gegenwart
Erinnerungsliteratur: In seinem neuen Roman „Die Eismine“ erhebt Aharon Appelfeld Einsamkeit und Kälte zur generellen Erzählperspektive
von MARIE LUISE KNOTT
„Ich habe kaum etwas über den Krieg geschrieben. Im Krieg schrumpft der Körper, und die Seele schwindet. Hunger und Kälte beherrschen dich, und du hast nur einen Wunsch: So schnell als möglich zu sterben.“ So erzählt der 1932 in der Bukowina geborene, heute in Israel lebende Schriftsteller Aharon (ursprünglich Erwin) Appelfeld, der als Jugendlicher in den Wäldern Osteuropas wie durch ein Wunder den deutschen Vernichtungskrieg überlebte. Seit Anfang der Siebzigerjahre schreibt Appelfeld Romane, deren eigenwillige Erzählkraft ihn schnell berühmt machte; die Romane kreisen um Vor- und Nachgeschichte der Judenverfolgung und der Vernichtung, ohne allerdings je die Lagererfahrung oder gar den totalen Terror der Vernichtung ins Geschehen zu rücken. Erstmals nun, über 50 Jahre nach Kriegsende, hat Appelfeld mit „Die Eismine“ (hebräisch 1997) das Leben im Ghetto und in einem Arbeitslager (am Bug) zum Ort des Geschehens gemacht. Appelfeld selbst konnte als Junge aus einem solchen Arbeitslager entfliehen, sein Vater aber kam dort zu Tode. Ihm ist das Buch gewidmet.
Die Handlung ist schnell erzählt: Ein Junge – Erwin, der Ich-Erzähler – und ein Mädchen – Ida – verlieben sich im Ghetto. Das Mädchen wird schwanger, und die beiden beschließen, vor dem Rabbi zu heiraten und so bald wie möglich zu fliehen; doch bevor die verschiedenen Versteckmöglichkeiten überdacht sind, wird Erwin in ein Arbeitslager deportiert, wo er (völlig abgeschnitten von seinem bisherigen Leben) mit anderen Männern eine Brücke über die Bug bauen soll. Der Tod steht ihnen allen andauernd vor Augen – zum einen, weil sich immer wieder erschöpfte Mitgefangene in die eiskalte Bug („Die Eismine“) stürzen, zum anderen, weil jede Ankunft neuer Transporte mit „noch unverbrauchten“ Arbeitskräften den bereits länger Geschundenen das Ausmaß der eigenen Erschöpfung spürbarer macht. Doch Erwin überlebt. Am Ende rückt die Rote Armee vor, die Juden kommen frei und irren umher, beladen mit der Hoffnung auf ein Zuhause, das es nur noch in ihrer Vorstellung gibt, und der Erinnerung an eine Lagerzeit, deren Sinn sich ihnen versperrt.
Der amerikanisch-jüdische Sprachtheoretiker und Philosoph George Steiner berichtete von einem fast verdursteten Häftling, der im KZ Mauthausen zusehen musste, wie der Aufseher eine Flasche Wasser ostentativ vor seinen Füßen ausgoss. Auf die Frage des Häftlings, warum er das tue, antwortete der Aufseher, in der Welt der Lager gäbe es kein Warum.
Appelfelds Helden in „Die Eismine“ fragen und suchen immer wieder nach einem solchen Warum, wie es Menschen tun, solange noch ein Rest Menschsein in ihnen ist. Sie verbringen ihre Lagerminuten, Stunden, Tage, Wochen und Sekunden damit, sich zusammenzureimen, welche Gründe die Deutschen haben könnten, sie derart zu quälen; sie mutmaßen, welches Kalkül die Aufseher zu welchem nächsten Schritt bewegen könnte. Eine „komplette Sinnlosigkeit“ (Arendt) nämlich ist kaum vorstellbar, geschweige denn annehmbar. „Jetzt wissen wir, dass wir für etwas bestraft werden“, reflektiert Erwin, der Erzähler, als sie im Lager ankommen. Wofür, meint er, würden sie mit der Zeit noch herausfinden.
Perverserweise ist die Selbstbezichtigung für die Menschen ein Hoffnungshalm. Denn: Wenn sie eine Schuld und somit eine Absicht und eine Folgerichtigkeit annehmen könnten, könnten sie womöglich eingreifen, versuchen, Einfluss zu nehmen, ja handeln. Als Erklärung reden die Häftlinge von „Läuterungsprozessen“ , von einer „Prüfung Gottes“, davon, dass die Juden sich immer vor dem Militär gedrückt hätten und nun, im Falle von Wohlverhalten, an der Front eingesetzt würden.
Bei den „Sünden“, die einige sich in der Vergangenheit haben „zuschulden kommen lassen“ und die sie nun, wie sie glauben, abbüßen, geht es vorrangig um die Religionszugehörigkeit, um die erhoffte oder gelungene Assimilation, um die Mitgliedschaft in einer zionistischen oder kommunistischen Gruppe. Gerade die „Sünder“ aber können den Nazis (und deren zynischem Satz „Arbeit macht frei“) noch aufrecht, teils mit eigenen Slogans, entgegentreten. „Keiner ist wie unser Gott“, ruft einer der gottesfürchtigen und starken Männer, wenn die Baumstämme für die Brücke gar zu schwer sind. Und damit schöpfen alle neuen Mut, ebenso wie mit dem vereinzelten, eher absurd anmutenden „Sag Stalin und sei stark!“ Vor allem Gläubige und Kommunisten verfügten durch ihren Rest an Zugehörigkeit noch über Widerstandskraft – sie teilten, sie halfen den Schwachen und setzten so hier und da die willkürlich waltende Todesmaschinerie außer Kraft. Für sie nämlich gibt es zumindest eine partielle Antwort auf die Frage: Warum? Sie haben etwas getan. Sie können der Verfolgung der Nazis so etwas wie „Sinn“ abgewinnen. Erwin, der Erzähler, beneidet die Mitinsassen um derartige geistige Zufluchtsorte. Doch er selber ist dieser Welt bereits entrückt.
In Appelfelds Romanen fehlen nicht nur Erklärungen und Entwicklungen der Figuren, es gibt auch kein Miteinander der Menschen. Jeder ist sich sein eigenes Stück Gegenwart. Nur ab und an gibt es so etwas wie Sorge umeinander. Meist aber bewegen sich die Menschen wie hinter einer Nebelwand – unerreichbar füreinander. Einige der Beschriebenen verlieren (wie Idas Mutter) den letzten Halt im Hier und Jetzt und verspinnen sich in ihr vergangenes Leben. Wem es nicht gelingt, aus dieser Welt der Halluzinationen wieder herauszufinden, der ist auf dem Weg in den Tod. Die meisten sind irgendwann unerreichbar, auch wenn sich gerade die Frommen immer wieder mühen und in diesem Roman die heimlichen Helden des Überlebens sind.
„Buzzi“ etwa, der immer „Keiner ist wie unser Gott“ gerufen und scheinbar naiv menschenwürdige Behandlung von den Nazis eingefordert hatte („Das kann man doch mit einem arbeitenden Menschen nicht machen“), steckt beim Vormarsch der Russen die Versorgungsbaracke des Lagers in Brand. Hier endlich eröffnet sich den Überlebenden die Möglichkeit des Widerstandes, ja des Handelns; die „Verwandlung“ kann beginnen. Allerdings handelt es sich (anders als bei Kafka) um so etwas wie eine zweite Geburt. Unter der Anleitung von „Pinchas“, der mit seinen Gebeten in der Vergangenheit oftmals geschmäht wurde, finden sie langsam die Sprache wieder – zunächst nur in Silben und einzelnen Worten. Irgendwann taucht auch unter ihnen die Parole des jüdischen Widerstandes auf: „Nie wieder wie die Schafe zur Schlachtbank.“ Sie finden Waffen und fühlen sich ein zweites Mal befreit, doch sie wollen bleiben – zumindest bis der Schnee geschmolzen ist.
„Fremdheit ist schlimmer als alles, was ich im Lager erlitten habe. Ich hole aus mir die vielen Worte herauf, die ich früher einmal verwendet habe: Substantive, Verben, Adjektive, (. . .) doch je mehr von ihnen ich berge, umso entsetzlicher wird die Entfremdung. (. . .) Ich werde von nun an in völliger Einsamkeit leben müssen.“ Appelfeld hat in seinen Romanen die Einsamkeit und Kälte zur generellen Erzählperspektive erhoben, was die Originalität seiner kargen, präzisen Prosa ausmacht. Menschliche Ideale wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Mitgefühl oder Beziehungsbedürfnisse sind als naiv im Vorhinein verworfen worden, so sehr sie auch als vorzeitige Erfahrung durchscheinen. Heraus kommt allerdings keine programmatische, gar zum Lebenselexier der Moderne erhobene Kälte, wie sie Helmuth Lethen für die Weimarer Zeit als einen versuchten Befreiungsschlag beschrieben hat. Appelfelds Kälte ist vielmehr eine, die sich von innen durch die Menschen zersetzend hindurchgeschlichen hat. Das Menschliche ist noch vorhanden, doch unerreichbar – eine erinnerte Hülle nur mehr.
Im Unterschied zu Primo Levi oder Imre Kertesz wird hier jedes karge Gefühl im Moment der Äußerung bereits erstickt, so als drohe mit dem Einlassen auf das (eigene oder fremde) Innenleben eine zu große Gefahr. Selbst die junge Liebe zwischen Ida und Erwin kann die grundsätzliche Einsamkeit kaum länger als einen Moment überwinden.
Auf diese Weise hat Appelfeld die Erinnerungsliteratur um eine äußerst einprägsame fremde Stimme bereichert. Die eigene Erfahrung ist das Material, die Geschichten gleichwohl sind erfunden, sie kreisen immer aufs Neue um die Fragen von jüdischer Identität und Überleben der Shoah und ergeben zusammen einen eigenen Kosmos. Der letzte Teil des Romans „Die Eismine“ etwa ist eine kurze Variation auf den 1989 erschienenen Roman „Für alle Sünden“, der ebenfalls zum Zeitpunkt der Auflösung der Lager spielt.
Beide Male geht es – wenngleich auf verschiedene Weise – um das unmittelbare Weiterleben und Nichtweiterleben: „Da die Brücke genauso aussah wie die Brücke, die wir gebaut hatten, spürten wir einen Moment, dass auch etwas von unseren Körpern in ihr war“, heißt es in „Die Eismine“ lapidar. Der Protagonist in „Für alle Sünden“ hielt sich bewusst abseits, seine Einsamkeit war Programm. Mit den Gruppen Umherziehender, die wie er dem Lagertod entronnen waren, teilte er nichts als das Bedürfnis nach Kaffee und Zigaretten, wie es schien.
Der Ich-Erzähler in „Die Eismine“ hingegen schildert das Überleben aus der Perspektive eines Gruppenmitglieds, einsam und kalt zwar, doch es gibt ein Miteinanderweitermachen, wenngleich dessen Sinn und Ziel offen bleibt. Der Roman endet folglich ohne Wissen oder Ahnen: „Und als der Tag anbrach, luden wir das Kochgerät und die Lebensmittel auf den Wagen, spannten uns ins Geschirr und zogen, ohne länger zu verweilen, über die Brücke.“ Nach Irgendwohin – der Körper geschrumpft und die Seele geschwunden.
Aharon Appelfeld: „Die Eismine“. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 304 Seiten, 39,80 DM
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