: Unwiderrufliche Leitkultur
Cricket, in vielen Ländern mehr Lebensphilosophie als Sport, wird von einem heftigen Skandal erschüttert: Einige der besten Spieler der Welt sind der Korruption überführt oder angeklagt
von ASHWIN RAMAN
Ein Leser der Londoner Times schrieb einmal: „Letztens bat ich einen Taxifahrer, mich zum Lord’s (dem heiligsten aller Cricketstadien) zu bringen. Ich musste ihm den Weg beschreiben! Kein Wunder, dass dieses Land vor die Hunde geht.“
Monate später erlebte der Sport einen weiteren herben Rückschlag. Nach 212 Jahren werden sogar Frauen im Hauptpavillon des Lord’s zugelassen! Aber was Cricket in diesen Tagen hinnehmen muss, bringt das Fass zum Überlaufen. In einem 162-seitigen Bericht überführte das indische Central Bureau of Investigation (CBI) führende Spieler aus aller Welt der Korruption. Diese sollen horrende Summen von indischen Buchmachern dafür genommen haben, dass sie absichtlich schlecht spielten oder Informationen über Taktik, Aufstellung und Verfassung ihrer Teams preisgaben. Das Ganze ist nur zufällig aufgedeckt worden. Auf der Spur einiger mafiaähnlicher Gestalten hörte das CBI deren Handys ab. Dabei belauschte es ein Gespräch zwischen einem der Gangster und dem südafrikanischen Kapitän Hansie Cronje. Er verlangte 100.000 Dollar für eine Niederlage gegen Indien.
Cronje, ein Halbgott in Südafrika, ist inzwischen lebenslänglich gesperrt worden. Bei seiner Anhörung beschuldigte er einen weiteren Halbgott, den indischen Kapitän Mohammed Azahruddin. Der packte aus und belastete fünf Teamkollegen, darunter Stars wie Ajay Jadeja oder Nayan Mongia, sowie etliche ausländische Spitzenkräfte. Laut CBI sollen neun Spieler aus England, Australien, Neuseeland, Sri Lanka, Pakistan und von den West Indies (Karibische Inseln) Bestechungsgelder akzeptiert haben. So habe der neuseeländische Kapitän Martin Crowe 20.000 US-Dollar für Informationen erhalten, ebenso Australiens Mark Waugh. Dessen Mannschaftskamerad Dean Jones hingegen wies eine Offerte von 40.000 Dollar zurück. Die meisten Beschuldigten geben zu, von Buchmachern kontaktiert worden zu sein, behaupten aber, nicht auf die Angebote eingegangen zu sein. Jadeja wandte sich auf einer Pressekonferenz in Delhi mit einer 15-seitigen Erklärung gegen die Vorwürfe.
Die Betroffenheit, die der CBI-Bericht auslöste, ist Menschen, in deren Ländern Cricket keine Rolle spielt, nur schwer zu vermitteln. Cricket ist kein Sport, sondern eine Lebensphilosophie. Eine unwiderrufliche Leitkultur, wenn man so will. Es ist nicht zu vergleichen mit Fußball, auch nicht mit Fußball im Ruhrpott oder Brasilien. Und überhaupt kann man doch keinen Sport ernst nehmen, der unter fünf Tagen ein Resultat erreicht. Robert Mugabe, eher ein Marxist, sagte einmal: „Cricket ist der Inbegriff für Zivilisation und produziert anständige Menschen. Ich möchte, dass alle in Simbabwe Cricket spielen. Unser Land soll das Land der Gentlemen werden.“
Internationale Spiele, genannt Testmatches, dauern jeweils fünf Tage. Man beginnt um 10.30 Uhr und begibt sich um 12.30 Uhr zum Lunch. Nach einer 45-minütigen Pause geht das Spiel bis zur Tea-time um 15.15 Uhr weiter. Gurkensandwiches und Tee werden zu sich genommen. 20 Minuten später wird das Spiel dann für weitere zwei Stunden fortgesetzt. Die Mannschaften spielen fünf solcher Tests. Zwischendurch müssen die Gäste mehrere dreitägige Freundschaftsspiele gegen diverse Bundesländer absolvieren. Das tourende Team ist mindestens drei Monate unterwegs. Ehefrauen dürfen selbstverständlich nicht mitreisen. Die Zuschauer teilen ihre Mahlzeiten mit Unbekannten. Neue Freundschaften werden geschlossen, Geschichten erzählt, und den ganzen Tag lang wird herumphilosophiert. Man genießt den Klang des Lederballs auf die Holzschläger, den Duft des englischen Rasens und den langsamen Untergang der Sonne. Auf dem Heimweg in Bus und Bahn werden die Ereignisse des Tages noch einmal analysiert.
Wenn Indien ein Testmatch gegen England, Australien oder Pakistan spielt, geht man einfach nicht zur Arbeit. Für diejenigen, die das Spiel nicht live sehen können, gibt es rund um die Uhr Übertragungen in Radio und Fernsehen. Im Falle eines Sieges bekommen Kinder schulfrei. Eine Niederlage bedeutet einen Weltuntergang. Schlechte Ergebnisse der Nationalmannschaften sind Anlass für Parlamentsdebatten. Als John Major Premierminister war, musste er eine Krisensitzung des Unterhauses einberufen, um die desolate Lage des englischen Crickets zu diskutieren.
Inzwischen ist es um das englische Cricket besser bestellt. England wird jetzt geführt von Nasser Hussein, einem Sohn indischer Immigranten. Einer seiner Vorgänger war im Übrigen Alec Stewart, auch er dick in den aktuellen Skandal verwickelt.
Informationen über Cricket in Deutschland: www.dcb-cricket.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen