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Nach der Schule Steinewerfen

Gefangen zwischen Propaganda und brutaler Wirklichkeit, sind es vor allem Kinder, die unter den Unruhen zwischen Israelis und Palästinensern leiden

aus Bir Zeit YASSIN MUSHARBASH

I

Höchstens vierzehn Jahre alt. Der Junge schert aus der Prozession aus, die sich auf dem Weg zu den nächstgelegenen Unruhen in Gaza befindet, und läuft auf die Kameramänner zu: „Ich fürchte mich nicht vor Kugeln, und ich fürchte mich nicht vor Raketen! Ich fürchte mich nur vor Gott! Ich bin hier, um mein Vaterland zu verteidigen und um die Märtyrer zu ehren!“ Faust in die Höhe.

Das sind die Bilder, die den Israelis Angst machen.

In Ramallah kursiert die Geschichte eines Jungen, der nur noch Mädchenkleider tragen will: „Die Israelis schießen nur auf Jungen!“, soll er seinen Eltern zur Begründung gesagt haben.

Das sind die Geschichten, die den Palästinensern Tränen der Wut in die Augen treiben.

Auch wenn die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt – zwischen Kindern, die von ihren Eltern an die „Steinewerfer-Front“ geschickt werden, und unschuldigen Schulkindern, die von israelischen Kugeln durchsiebt werden – zeigt sich nach beinahe acht Wochen andauerndem Ausnahmezustand in den palästinensischen Gebieten, wie sehr vor allem die Kinder betroffen sind.

II

Bis vor acht Wochen konnte man jeden Abend aus dem zweiten Stock des Gebäudes zwischen dem Postamt und dem Elektronikgeschäft von Bir Zeit die Mädchen Pingpong spielen hören. Aber seit dem Beginn der zweiten Intifada ist das Pfadfinder-Quartier in dem kleinen Dorf in der Nähe von Ramallah geschlossen. Es gehört sich nicht, Pingpong zu spielen, während das Volk für seine Unabhängigkeit kämpft.

Aus demselben Grund gibt es auch kein Kinderfernsehen mehr auf den palästinensischen Kanälen. Nur noch Intifada, 24 Stunden lang, neue Bilder und alte. Manchmal, wenn die Auseinandersetzungen live übertragen werden, kann man die großen Geschwister durchs Bild laufen sehen.

Ein vielleicht zehnjähriger Junge läuft abends kreischend durch die Straßen im Dorf und wirft kleine Kiesel gegen parkende Autos. Nach jedem Treffer wirft er sich in den Graben und ahmt Schussgeräusche nach.

III

Etwa zwei Kilometer von Al-Birah entfernt, einem Stadtteil von Ramallah, an dessen Ortsgrenze jeden Tag israelisches Militär und palästinensische Jugendliche aufeinander treffen, auf einem Feld, spielen ein Dutzend Kinder. Sie spielen „Steinewerfer und Spezialagent“ – dazu verschanzen sie sich alle gemeinsam hinter einem Müllcontainer und werfen Steine, bis einer von ihnen, der „Spezialagent“, eine Maske überzieht. Dann rennen alle los, und der Agent muss versuchen, eines der Kinder zu verhaften.

IV

Wenn es hart auf hart kommt, weiß in jedem Dorf in Palästina jedes Kind, was es zu tun hat. Eigentlich ist Bir Zeit ein kleines, verschlafenes Dorf, in dem hauptsächlich Studenten leben. Aber es gibt einige israelische Siedlungen in der näheren Umgebung. Einmal gibt es wieder Maschakil an der Zufahrtsstraße zu einer der Siedlungen. „Maschakil“, „Probleme“, das arabische Wort für die Unruhen. Einige Steinewerfer fordern ein paar israelische Jeeps heraus. Innerhalb von Minuten, nachdem der erste Schuss gefallen ist, werden im gesamten Dorf Barrikaden errichtet. Autoreifen, Sperrmüll, Müllcontainer, Steinbrocken, alte Schuhe. „Falls die Soldaten ins Dorf kommen!“, erklärt ein zwölfjähriger Junge, der normalerweise um diese Zeit im Innenhof des Studenten-Clubs mit seinen Freunden Baskatball spielen würde.

Bir Zeit gehört zur „Zone B“, das heißt, dass die Israelis offiziell für die Sicherheit zuständig sind. Deshalb ist es nicht ausgeschlossen, dass sie ins Dorf kommen. Aber die „Probleme“ sind schon nach wenig mehr als einer Stunde vorüber. Bis zum Abend haben die Kinder auch die Barrikaden wieder abgebaut. Nur inmitten eines kleinen Verkehrskreisels schmurgelt noch ein Autoreifen vor sich hin.

V

Mehr als die Hälfte alle Palästinenser sind jünger als 20 Jahre. Die älteren von ihnen haben die erste Intifada bewusst miterlebt. Sie sind nun Veteranen. Kaum jemand, der älter als 20 ist, nimmt aktiv an den Auseinandersetzungen teil. Das machen jetzt die jüngeren Geschwister. Die Veteranen sitzen auf nahe gelegenen Hügeln und schauen zu.

Die Jüngeren sind zumeist gegen den Willen ihrer Eltern an den Schauplätzen der Gewalt. Ab und an kann man sehen, wie sich Mütter unter die Demonstranten wagen und ihre Söhne an den Haaren aus der Gefahrenzone ziehen. Manchmal versohlen sie ihnen schon an Ort und Stelle den Hintern.

VI

Mustafa Barghouti ist ein großer, gut gebauter Mann mittleren Alters. Er trägt eine randlose Brille und spricht Englisch mit einem leichten amerikanischen Akzent. In den vergangenen Wochen hat er täglich zahllose Interviews gegeben – er arbeitet als Arzt, und versorgt die internationalen Medien mit Fakten über den Stand der medizinischen Versorgung in den palästinensischen Gebieten während der Unruhen. „Unser Hauptproblem in den kommenden Wochen, wenn die Abriegelung der palästinensischen Gebiete anhält, könnten Kinderkrankheiten werden. Schon jetzt können wir nicht in die abgelegenen Dörfer fahren, um Impfungen durchzuführen. Als Erstes werden die Masern ausbrechen“, prophezeit er, streicht sich durchs Haar und wendet sich der auf dem Tisch aufgebauten Sammlung israelischer Patronen zu. Sein Verwandter Marwan Barghouti ist Generalsekretär der Fatah-Bewegung in Ramallah und hat die Palästinenser wiederholt dazu aufgefordert, die isralischen Siedler aus dem Westjordanland zu vertreiben. Er gehört zu den Organisatoren der Intifada.

VII

Kinder eignen sich hervorragend für Propaganda, und beide Seiten machen von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch. In jeder palästinensischen Stadt hängen Plakate des zwölfjährigen Muhammad aus Gaza, der in den Armen seines Vaters erschossen wurde. Daneben findet man zumeist das Poster der zwei Monate alten Sara, die von Siedlern getötet wurde.

In den israelischen Zeitungen werden Spendenaufrufe zur Hilfe für traumatisierte Kinder israelischer Siedler gedruckt. Eine palästinensische Internet-Agentur verschickt Schulaufsätze, die palästinensische Viertklässler über ihre Angst vor israelischen Soldaten geschrieben haben sollen – alle ein kleines bisschen zu glatt geschrieben, zu fehlerfrei, zu deutlich, zu durchdacht.

Als Mitte November ein zweijähriges Kind israelischer Siedler von Steine werfenden Palästinensern leicht verletzt wurde, fand man die entsprechende Meldung in allen Agenturen. „Wie schaffen die das bloß, dass die ganze Welt ihnen zuhört, wenn so etwas passiert? Wir haben 3.000 verletzte Jugendliche in unseren Krankenhäusern, und das interessiert niemanden!“ – diese Klage in allen möglichen Variationen hört man jeden Tag in den palästinensischen Gebieten. Über den Tod von Muhammad und Sara wurden bereits Lieder geschrieben und professionell produziert. Auch die hört man jeden Tag. Eilig zusammengeschusterte Propaganda.

VIII

In Westjerusalem kann man Graffiti finden, die aus der einfachen Gleichung „Arafat = Hitler“ bestehen. In den palästinensischen Gebieten kommt eine ähnliche Gleichung ganz ohne Worte aus: Davidstern gleich Hakenkreuz. Schon alleine weil die Kinder jeder Seite die andere Partei für das absolute Übel halten, ist eine Versöhnung im Moment schwer vorstellbar. Aaron, aus den USA, hat über ein Jahr problemlos mit palästinensischen Kindern gearbeitet. Seit dem Beginn der Bomardierungen palästinensischer Städte kommt er jedoch nur noch mit schwarzweiß gemusterter Kaffiyeh zur Arbeit, denn plötzlich muss er sich für die Politik seiner Regierung vor Kindern verantworten. „Du bist Amerikaner! Warum sollten wir dir glauben, dass du auf unserer Seite stehst?“, haben sie ihn gefragt.

IX

Es gibt viele Internetcafés in Palästina. Seit dem Ausbruch der Unruhen gehört es zum guten Ton unter jugendlichen Palästinensern, politische Bildschirmschoner und Hintergrundbilder zu installieren, bevor sie das Café wieder verlassen.

Nummer eins ist ohne Zweifel der Barak-Bildschirmschoner, der den israelischen Ministerpräsidenten in seiner Zeit als aktiver Soldat zeigt, wie er eine Leiche oder einen Schwerverletzten, allem Anschein nach ein Araber, über einen Betonboden schleift. Darüber steht meistens: „Achtung! Kriegsverbrecher!“.

Platz zwei geht an den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, der ein Baby auf dem Arm hält. Mit Hilfe eines Computerprogramms wurde das Gesicht des Kleinkinds mit dem Ehud Baraks vertauscht. Clinton streicht ihm über das Gesicht und sagt: „Keine Sorge, Ehud! Ich passe auf dich auf, egal was du anstellst!“

Auf Rang drei steht ein Bild, das während einer der täglichen Auseinandersetzungen gemacht wurde: ein israelischer Soldat zielt mit einem Gewehr auf einen palästinensischen Jungen. In das Bild hineingesetzt wurde ein rotumrandetes Warnschild, auf dem steht: „Achtung! Kindermörder bei der Arbeit!“.

X

Etwa 150.000 palästinensische Familien sind wegen der Abriegelung der Gebiete ohne geregeltes Einkommen. Die Menschen hocken aufeinander. In Beit Sahour wurde bei einem der nächtlichen Bombenangriffe Mitte November auch das Gebäude des „Christlichen Vereins Junger Menschen“ getroffen, in dem extra ein Raum für die verunsicherten und ängstlichen Kinder eingerichtet worden war. Spieltherapie. Jetzt sitzen die Kinder wieder zu Hause. Der Pastor von Bir Zeit erzählt: „Mitten ins Gesicht schlagen sich die Kinder gegenseitig! Einfach so!“

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