piwik no script img

Wiederherstellung der Ordnung

Sebnitzer Bürger warnen die Familie des toten Joseph vor einer Rückkehr in den Ort. Dafür, wie das Kind gestorben ist, interessiert sich niemand mehr

aus Sebnitz HEIKE HAARHOFF

Ein gutes Dutzend Polizisten hat das Fachwerkhaus in der Rosenstraße umstellt, mit Absperrgittern verbarrikadiert. Dabei befindet sich schon seit Montag niemand mehr in der Center-Apotheke: Familie Kantelberg-Abdulla, deren Sohn Joseph vor dreieinhalb Jahren unter ungeklärten Umständen im Freibad von Sebnitz ertrank, hat die ostsächsische Kleinstadt verlassen.

Sie ist „abgetaucht“, und zwar „fluchtartig“, hetzt es auf dem Marktplatz, in den Geschäften, in den Kneipen. Sie solle sich „der Schande schämen, die sie über Sebnitz gebracht hat“. Sie solle „es nicht wagen zurückzukehren“, ruft eine Passantin und reckt drohend die Faust. Vermutlich zählt dieser Ratschlag zu den gut gemeinten: Seit die Staatsanwaltschaft Dresden mitgeteilt hat, dass die 15 schriftlichen Zeugenaussagen, Joseph sei von Neonazis misshandelt und unter dem tatenlosen Zusehen hunderter Personen ermordet worden, vermutlich von Josephs Mutter gekauft und beeinflusst wurden, ist die Stimmung im Ort pogromartig. „Ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn die Kantelbergs sich hier noch einmal blicken lassen“, warnt die Leiterin einer Grundschule.

Ebenso vorschnell, wie vor einer Woche eine ganze Stadt zur rechten Hochburg gemacht wurde, wird jetzt von Politikern und im Ort „der Fall Joseph“ als Badeunfall abgetan und als rufmörderischer Anschlag auf den Wirtschaftsstandort Sebnitz gewertet. „Wir sind ganz normale Leute“, beschwert sich eine Geschäftsfrau, die anonym bleiben möchte, „wir sind nicht fremdenfeindlich. Aber bei unseren Firmen werden jetzt die Aufträge storniert, Touristen sagen ihre Hotelbuchungen ab, der ganze Dreck wird noch lange an uns hängen bleiben.“ So, als sei das die größte Tragik.

Dabei ist der Tod des Jungen alles andere als aufgeklärt: Die zentrale Frage, wie Joseph Abdulla am 13. Juni 1997 in das Schwimmbecken kam, in dem er ertrank – geschubst, geworfen, ausgerutscht, gesprungen – kümmert kaum noch jemanden. Zu sehr ist man mit der Wiederherstellung der Ordnung beschäftigt: Der evangelische Pfarrer, wegen seiner unglücklichen Äußerung, die Eltern hätten ihre Aufsichtspflicht verletzt, vom Dienst suspendiert, ist wieder im Amt. Der Bürgermeister will Sebnitz „rehabilitieren“ und trifft sich diesbezüglich mit Unternehmervertretern zum vertraulichen Gespräch.

Für alle weiteren Fragen, die noch zu regeln sind, wären Zeugen nötig. Nach dreieinhalb Jahren, in denen die Polizei nicht eben durch Recherche glänzte, ein mehr als schwieriges Unterfangen. Und diejenigen vermeintlichen Zeugen, die Renate Kantelberg-Abdulla selbst aufgetrieben hat, scheinen wenig beitragen zu können. „Nichts mit eigenen Augen gesehen“ hätten sie, sagt die Staatsanwaltschaft. „Ortsbekannte Säufer“ seien sie gewesen, sagt der Taxifahrer, „für ’ne Flasche Schnaps alles unterschreiben und sich am nächsten Tag an nichts erinnern“. Renate Kantelberg-Abdulla sagt: „Die Zeugen haben ihre Aussagen aus Angst zurückgezogen.“

Sie ist, nachdem sie durch die Medien getingelt ist, derzeit nur über Handy zu erreichen. Über Aufenthaltsort und Zukunftspläne mag sie nicht reden, nur darüber: „Mein Sohn ist ermordet worden.“ Eindringlich, keinen Widerspruch duldend: „Ermordet, verstehen Sie?“

Das, sagt Wilhelm Baues, habe sie schon seit Monaten erzählt, jedem, der in ihre Apotheke kam und es hören wollte oder nicht: „Sie hat sogar Namen genannt und gesagt, es würden Köpfe rollen.“ Wilhelm Baues, 52, CDU-Stadtverordneter, ist einer der wenigen, von dem nicht gleich Hasstiraden kommen, wenn der Name Kantelberg fällt. Weil er erst vor sieben Jahren nach Sebnitz kam und wie Renate Kantelberg aus Mönchengladbach stammt, will er mal ein paar Dinge klar stellen: „Man kann wirklich nicht sagen, dass man hier als Wessi von allen mit offenen Armen empfangen wird.“ Doch die Art und Weise, mit der Renate Kantelberg versucht habe, „den Tod ihres Sohnes zu verwinden“, habe ihn befremdet: „Sie wollte mit aller Gewalt, dass die Stadt Schuld hat.“ Konkurrierende Apotheker bestätigen das: Nach Josephs Tod habe Renate Kantelberg sie mit Anzeigen überzogen, sie gegen ihren Willen fotografiert, sie öffentlich als Mörder bezichtigt. Der Vorwurf bleibt unausgesprochen: Hat jemand, der sich so verhält, nicht selber Schuld?

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen