: Quasseln und Lakonik
Man ignoriere bitte die Unterscheidung von Wissenschaft und Literatur, von Fiktion und Dokument: Alexander Kluges expandierendes Erzähluniversum
von MICHAEL RUTSCHKY
Was er auch macht, auf Kluge richten sich unverändert starke Erwartungen der Community. Ich weiß das von mir selber; immer wenn mir jemand erklärte, jetzt erschöpfe er sich endgültig mit seinen exzentrischen Fernsehprogrammen, reagierte ich mit Abwehr, womöglich Empörung. Dabei musste ich verschweigen, dass ich die Fernsehprogramme schon lange nicht mehr anschaue.
Jedenfalls entlud sich jetzt die Erwartung in dem lebhaften Echo, das Kluges in zwei Bänden gesammeltes, erweitertes, neu geschnittenes Erzählwerk hervorrief. Genau gerechnet dauert es 23 Jahre, dass das Erwartete eintrat: Der Band „Neue Geschichten. Hefte 1. 18. ‚Unheimlichkeit der Zeit‘“ erschien 1977 und sättigte nicht nur gründlich, sondern weckte noch stärker den Appetit auf mehr – 1977 wäre eine solche Nahrungsmetapher natürlich unerlaubt gewesen.
Pause im Café Bauer
In den schrecklichen Siebzigern, behaupte ich gern, hat uns Alexander Kluge das Leben gerettet. (Es gab noch einen zweiten Retter, den schwedischen Romancier Lars Gustafsson, sein Zyklus „Risse in der mauer“ – aber das ist eine andere Geschichte: Fragen Sie mal Jochen Schimang.) Damals hätte unsereins sicher gesagt, dass der Band „Öffentlichkeit und Erfahrung“, den Kluge 1972 gemeinsam mit Oskar Negt veröffentlichte, der theoretischen Arbeit wichtige Impulse gebe (im Untertitel hieß das Buch „ Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit“). In Wahrheit aber war die Theorie überhaupt kaputt; einerseits von den K-Gruppen in absurden Distinktionskämpfen um die wahre Orthodoxie der Arbeiterbewegung zermahlen, andererseits durch den Existenzialismus der RAF todbringend verwirklicht.
Aber dann kam Kluge mit seinem dicken Erzählbuch „Chronik der Gefühle“ (das die ohnedies schon gründlich erwiesene Kompetenz der gloriosen Edition Suhrkamp für Gegenwartsfragen bekräftigte). Ich öffne den violetten Band an einer beliebigen Stelle: „Pause im Café Bauer. Pausen sind intensive,miniaturisierte Arbeitsphasen, denn von der spezialisierten Arbeit im Institut für Sozialforschung erholt man sich durch anderweitig gerichtete Arbeit. Die Erholung liegt im Schwerpunktwechsel, im Wechsel der Selbststeuerung, während die Hände ichlos in der Kaffeetasse graben.“
Man kann sicher sein, dass in der Beschreibung der Pause Arbeitswissenschaft steckt – 1981 haben dann Negt und Kluge den notorischen Monumentalband „Geschichte und Eigensinn“ veröffentlicht, der in Blau und Gold wie eine Folge der Marx-Engels-Gesamtausgabe daherkam und in allen erreichbaren Formen fachwissenschaftlicher Gelehrsamkeit schwelgte. Aber die Arbeitspause im Café Bauer – ehrfürchtig schaute ich als Student da mal Adorno und Herbert Marcuse bei Kaffee und Kuchen zu –, die Arbeitspause im Café Bauer endet in einer poetischen Formulierung, das ichlose Kaffeerühren. (Und „Geschichte und Eigensinn“ schwelgt auch in poetischen, erzählerischen Formulierungen; nicht zu vergessen der reiche Durchschuss mit Bildern aller Art, die unaufhaltsam weitererzählen; was auch immer.)
Dies möchte ich zu dem zentralen Kunstgriff Alexander Kluges erklären, dessen Fruchtbarkeit das schiere Ausmaß seiner Produktion bezeugt: Man ignoriere die Unterscheidung von Wissenschaft und Literatur, von theoretischer Argumentation und Erzählung.
Dies Ignorieren macht natürlich Mühe. Denn man muss wirklich was von der Sache verstehen; es genügt keineswegs, dass man eine Fachterminologie als poetisches Material adaptiert (so wie sich James Joyce für „Finnegans Wake“ flüchtig den Sound unzähliger Sprachen aneignete). Kluge ist Jurist (was ihm sein Fenster im Privatfernsehen zu erobern erleichtert hat); wenn es die literaturwissenschaftliche Dissertation, die juristische Verfahren in seinen Arbeiten und ihre Folgen für das epische Material untersucht, noch nicht gibt, liebe Literaturprofessoren, dann wird’s aber wirklich Zeit. Die Rechtswissenschaft scheint vor allem weitläufige Handlungsräume und Organisationszusammenhänge zu erschließen, die sich der Normalbelletrist nur mühsam erhinkt. „Ein Materialist ist nie doktrinär“, erklärt der Kirgise Lermontow, Obrist im sowjetischen Geheimdienst. „Er schließt ohne Grund keine Krafteinwirkung in der Welt als unmöglich aus. Vor allem dann nicht, wenn sie sich unserer Beobachtung öffnet. Nehmen Sie die eigentümliche Lähmung Hitlers, seine Blendung (im Moment des Fiaskos der Front von Moskau). Im Dezember 1941: ‚wie schneeblind‘. Er erklärt den USA den Krieg. Das müsste er nach den Verträgen nicht. Er besiegelt das Ende des Dritten Reiches. Wie wollen Sie so etwas erklären? Wenn nicht Götter die Hand führen?“
Hat doch sein Gutes
Auch eine zweite Unterscheidung, die gerade in unseren Kreisen als kategorisch geschätzt wird, ignoriert Alexander Kluge souverän: die Unterscheidung von Negation und Affirmation. Zwar präsentiert er sich von Anfang an als Schüler Adornos und der Kritischen Theorie, doch liegt ihm eigentlich nichts ferner als Ideologiekritik, die Demontage des falschen Bewusstseins. Bestimmte Negation, Adornos Programm, findet sich bei Kluge nicht einmal als Gegenprogramm, bestimmte Affirmation („. . . hat doch auch sein Gutes!“). Das heißt es eben, eine Unterscheidung zu ignorieren.
Seit den „Lebensläufen“ (1962), seinem ersten Erzählbuch, befähigt Kluge diese Strategie zu einer epischen Bearbeitung des Dritten Reiches, zu der ich keinen Parallelfall kenne. Ich habe erst jetzt – in den dicken Doppelbänden – sein Stalingradbuch von 1964 zum ersten Mal gelesen (schon wieder umgeschnitten: Als Filmemacher kann Kluge seinen Texten die philologische Erstarrung ersparen; immer wieder verwandeln sie sich in Material, das neu montiert werden darf). „Organisatorischer Aufbau eines Unglücks“ ist der Untertitel; seinerzeit hielt man das Buch für einen Roman und monierte seine Unpersönlichkeit und Kälte: Ohne jede Distanzierungsgeste imaginiert Kluge die Perspektive der deutschen Generalität und zitiert diverse Textwelten. „Füße sind besonders empfindlich gegen Frost. Strümpfe häufig wechseln. Einlegesohlen aus Stroh, Stoff oder Papier, ferner sorgfältig eingelegtes und gut passend geschnittenes Langstroh, sowie gut um den Fuß gewickeltes Zeitungspapier sind gute Mittel gegen Erfrierungen der Füße.“
Hier könnte man einer weiteren ignorierten Unterscheidung gedenken, nämlich der zwischen tragisch und komisch. (Wie kommt man im russischen Winterkrieg massenhaft an Zeitungen?) Tatsächlich gibt es bei Kluge immer viel zu lachen, und auch die Dissertation über seinen Humor, liebe Literaturprofessoren, steht dringend an. Was Stalingrad betrifft, so hat er vier Überlebende – Stefan Boltzmann, A. Dorfmann, v. Ungern-Sternberg jun., Franz Zwicki – unter dem Titel „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“ 1973 ins Weltall geschickt, wo sie auch den Dritten Weltkrieg überleben, denn die Mensch-Maschine Stalingrad antizipierte absolute Kriegstauglichkeit. (Es gibt zu diesem Komplex auch einen Zukunftsfilm, „Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte“, dessen Komik ich als hilarious, wie der Engländer sagt, in Erinnerung habe.) „Helmut Heuber, 46 Jahre alt, Kleingärtner aus Wirtsweiler bei Freiburg, ein dunkelhaariger athletischer Typ mit kurzen und stämmigen Beinen und ungewöhnlich behaarten Oberschenkeln. Auch die Haare im Nacken wachsen ungewöhnlich zahlreich in den Rücken hinunter. Aber die in dieser körperlichen Verfassung organisierte Natur steht in keinem Verhältnis zu den Naturgewalten, die in wenigen Stunden diese Landschaft umgestalten werden.“ Infolge des Dritten Weltkriegs. Wobei Kluges Prosa – was ihn von allen anderen Autoren unterscheidet – eng mit seiner Stimme verwoben ist: Wer ihn, als Off-Erzähler in seinen Filmen oder als manischen Interviewer in seinen TV-Programmen gehört hat, kann gar nicht anders als seine Stimme zu dem gedruckten Text hinzuzuhalluzinieren. Irgendwo heißt es, Gabi Teichert, Geschichtslehrerin, lege große Wert darauf, Geschichte zu hören.
Gabi Teichert, Hauptfigur in Kluges Film „Die Patriotin“ (1979); Leni Peickert, 1968 Hauptfigur in „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ (beide Male: Hannelore Hoger): Eine der besonderen Freuden, die Kluges Arbeiten schenken, kommt von seinem absoluten Gehör für Namen. Obwohl er außerordentlich viele braucht, weil die Erzählung jederzeit neue Personen einführen möchte, stimmen die Namen immer, mit einer rätselhaften, geradezu magischen Präzision. Man hat mit Leni Peickert et al. stets weit intensiver zu tun als mit irgendeiner Romanfigur, die halt auch einen Namen braucht, dessen Willkürlichkeit man aber sofort erkennt.
Gehör für Namen
Es könnte die Unterscheidung von Fiktion und Dokument sein, die Kluge hier ignoriert: Die Namen seiner Figuren sind mit denen historischer Figuren unauffällig vermischt. Manchmal transferiert er solche historischen Namen auch umstandslos in die Fiktion: „Heiner Müllers Äußerungen“, heißt es in einer Fußnote, „in diesem Buch sind fiktiv. Sie haben aber ihre authentische Grundlage in den TV-Gesprächen, die ich seit 1986 mit ihm führte.“ Bei den Befragten seiner Interviews kann man regelmäßig den Eindruck gewinnen, dass sie sich unter dem Bann seiner dringenden Fragen in Fiktion, in Darsteller verwandeln. Hier würden sich, liebe Literaturprofessoren, vielleicht interessante Parallelaktionen eines anderen maverick, wie die Amerikaner sagen, herausarbeiten lassen: Walter Kempowskis. Auch er wird intensiv von Stalingrad, vom NS, von der deutschen Geschichte okkupiert; auch bei ihm kann unsereins – wie bei Kluge – lernen, dass man keineswegs aus dem Schneider ist, wenn man alle Aufmerksamkeit auf Auschwitz konzentriert. Zwei der „Neuen Geschichten“ von 1977 – jetzt in Band 2 der Dickbände – handeln ausführlich und ingeniös komponiert vom Luftangriff auf Halberstadt, 8. April 1945, sowie der „Verschrottung durch Arbeit“, die ein KZ-Außenlager in der lieblichen Landschaft dort betrieb, Kluge zitiert Humboldt und Goethe als Zeugen für deren Schönheit: Kein Leser käme auf die absurde Idee, man könne hier aufrechnen. (Auch bei Kempowski ist Aufrechnung ausgeschlossen: ingeniöse Trennungsverfahren, deren Untersuchung ich hier auslassen muss.)
Was ich, neben dem absoluten Gehör für Namen, zu den anhaltenden Rätseln von Alexander Kluges Arbeiten halte, ist die Vereinbarkeit zweier rhetorischer Strategien, die man unmöglich zusammendenken kann (deren Unterscheidung Kluge aber wiederum ignoriert): das Quasseln und die Lakonik. Ich öffne den ersten der dicken Bände an einer beliebigen Stelle.
„G., geboren 1949, hat kein Eigentum aufgehäuft. ‚Was ich besitze, trage ich mit mir.‘ Also: Mietwohnung (gehört ihm nicht), anvertrautes Dienstzimmer, wie es einem Staatssekretär im Ministerium der Finanzen der DDR zusteht, Vorzimmer mit Schreibkraft (das schon nicht mehr in unmittelbarer Nutzung). Er war Junggeselle. Vielleicht ist dies der einzige Luxus, den er wie ein Eigentum hegte, der unter beiden politischen Systemen, dem der DDR und dem der BRD, begründungspflichtig schien.“ Folgt ein Interview mit G. durch die Neue Zürcher Zeitung. Frage: „Und was haben Sie aus Ihren schlechten Erfahrungen von 1989 gelernt?“ Antwort: „Gar nichts. Das ist das Schlimme daran, dass die Zeit verrinnt und ich aus ihr nichts lernen will.“ – Wie macht er so etwas nur?
Von Anfang an expandiert Alexander Kluges Universum. Zu den „Lebensläufen“, die eine hübsche konventionelle Schriftstellerkarriere hätten begründen können, kamen die Spielfilme hinzu; „Abscheid von gestern“ (1966) habe ich neulich wieder gesehen und wegen seiner Frische restlos bewundert; während etwa Volker Schlöndorffs „Törleß“ (1966) beim Wiedersehen schon alle Schäden zeigt, die seine Filme seitdem immer wieder demolieren.
Dann kamen Kluges Kompilationsfilme, von denen „Deutschland im Herbst“ allein wegen der Trennungskunst, die der Film zwischen der Trauerfeier für Hanns Martin Schleyer und der Beerdigung von Baader-Ensslin-Raspe auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof walten lässt, zur Wiederherstellung des inneren Friedens in der Bundesrepublik beigetragen hat, ein unvergleichlicher Beitrag, liebe Kunstprofessoren. Oder ist hier der Politikprofessor zuständig? – Dann kam die Fernseharbeit, die anhaltend in der Intelligenzija die Hoffnung stachelte, vielleicht sei’s mit dem TV noch nicht vorbei. (Mal sehn.)
Ich gestehe, dass ich es irgendwann aufgab, der Expansion von Alexander Kluges Text-, Film- und TV-Universum beizuwohnen. Ich kam nicht mehr mit. Statt zusammengefasst zu werden, wurde ich zerstreut und blieb mir über den Gewinn unklar. Dass Kluge jetzt das Textuniversum in zwei Bänden versammelt und neu geschnitten (sowie tüchtig erweitert) hat, ermöglicht also eine neue Konzentration, und deshalb trafen die beiden Bände, nehme ich an, auf eine solche begeisterte Begrüßung. Also, lieber Leser, enjoy it.
Alexander Kluge: „Chronik der Gefühle“, Bd. 1: „Basisgeschichten“, 1.004 Seiten. Bd. 2: „Lebensläufe“, 1.302 Seiten. Frankfurt/Main, Suhrkamp 2000
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