: Die Zukunft nach dem Inferno
„Kein Feuerwerk zu Silvester!“, fordert Enschede. Der Schock der Katastrophe vom Mai sitzt tief. Am Sonntag will man mit Fackeln der Opfer gedenken
aus Enschede HENK RAIJER
Der Blick durch das Fenster macht stumm. Ein Elfjähriger schaut entgeistert auf zwei Kinderfahrräder, die nur wenige Meter hinter der Scheibe an einen Laternenpfahl gekettet sind: verkrümmt, verschmolzen, ohne Reifen. Sprachlos sind auch die Erwachsenen, die sich an diesem milden Dezembertag im Roomweg eingefunden haben. Ungläubig blicken sie, das Zischen der Grolsch-Brauerei im Rücken, durch die Gucklöcher im Bretterzaun auf das, was bis zum 13. Mai das Viertel Roombeek war: Bürgersteig und Straße fehlen, doch die Laternen, deren mattweiße Schirme die Explosion überlebt haben, lassen ahnen, wo in Enschede die Renbaanstraat begann.
Die in verschiedener Höhe eingebauten Fenster im Zaun, der das 42,7 Hektar große „Kerngebiet“ vom Rest der ostniederländischen Stadt trennt, seien umstritten, sagt Heleen van de Wal, die in Schutzanzug und -maske durch die Ruinenlandschaft führt. „Die Leute sagen, die Stadt fördere damit den Katastrophentourismus.“ Auch seien sie verärgert, dass ihnen als Betroffenen der Zutritt zum Gebiet verwehrt ist. „Immerhin“, erklärt van de Wal den pragmatischen Ansatz, „sind die Löcher kinder- und behindertengerecht.“
Enschede Roombeek-West, sieben Monate nach der Katastrophe: Steingerippe und Industrieruinen, schwarz und rußig wie eine Stadt nach stundenlangem Bombardement. Kein Fenster ist heil geblieben, Vorhänge bewegen sich im Herbstwind. Hektarweise Schutt, verbogener Stahl, eine Kinderschaukel, ein Computerbildschirm. In einem Garten blüht im Schatten eines verkohlten Gabelstaplers zaghaft der Winterjasmin. Akazien ragen wie Vogelscheuchen aus den Trümmern empor. Doch Vögel meiden das Terrain ohnehin. Selbst die Krähen – stumm wie Geister.
Das Werksgelände von S. E. Fireworks ist aus Sicherheitsgründen extra eingezäunt. Eine anderthalb Meter tiefe Delle im Betonfundament markiert die Stelle, an der am 13. Mai um 15.36 Uhr die fatale Explosion erfolgte. Ein Brand auf dem Firmengelände, den die Feuerwehr unter Kontrolle wähnte, verursachte an jenem Samstag eine Detonation in einem Frachtcontainer, in dem Feuerwerk aufbewahrt wurde. Die Druckwelle, die dann entstand, blies fünfzehn weitere Container, alle bis oben hin mit Ware gefüllt, gleichzeitig in die Luft. Die Explosion und die anschließende Feuersbrunst fegten ein ganzes Viertel von der Karte. Das Inferno forderte „nur“ zweiundzwanzig Menschenleben, weil sich tausende Bewohner wegen der Hitze draußen aufhielten oder unterwegs waren. Es gab etwa tausend Verletzte. „Es ist ein Wunder, dass die Katastrophe nicht weit mehr Menschenleben gefordert hat“, sagt Heleen van de Wal.
„Die brauchen Hilfe“
Tage lang suchten damals Spezialisten zwischen Ruinen, Schutt und ausgebrannten Autos nach menschlichen Überresten. An die 70 städtische Beamte waren mit der Erfassung von Vermissten beschäftigt. Durch anfängliche Koordinationsmängel belief sich deren Zahl zunächst auf über 200, anschließend auf 400, dann wieder 200, am Ende aber auf „nur“ drei Personen. Um das Behördenchaos abzustellen, wurde am 20. Mai eine Anlaufstelle für die Opfer der Katastrophe eröffnet: das Informations- und Beratungszentrum IAC. Dorthin konnten sich Enscheder wenden, die am 13. Mai auf einen Schlag alles verloren hatten.
Von Anfang an war das IAC ein einzigartiger Zusammenschluss behördlicher Dienstleistungen. 48 in Folge des vuurwerkramp rekrutierte Fachleute beraten auch heute noch unter einem Dach in allen finanziellen, rechtlichen und gesundheitlichen Fragen. „Anfangs haben wir unbürokratisch Geld verteilt, Wohnraum besorgt und psychologische Betreuung organisiert“, sagt Karin Kuit, die IAC-Sprecherin. „Heute haben viele Leute Probleme mit ihrer Versicherung. Oft sind sie dabei auf unsere türkischen und marokkanischen Dolmetscher angewiesen. Andere sind traumatisiert, sind außer Stande zu arbeiten. Die brauchen Hilfe. Und das dürfte wohl noch fünf Jahre so bleiben.“
Zusammengeschlossen haben sich auch die evakuierten Bewohner des Stadtteils. Der Interessenverband der Opfer der Feuerwerkskatastrophe von Enschede (BSVE) residiert in einem 15-Quadratmeter-Zimmer in der Begegnungsstätte „Kompas“, nur wenige hundert Meter nördlich der Explosionsstelle. Freiwillige wie Nahrin Malki und Esther Kamerich kämpfen hier für die Belange derer, die sich im Paragrafendschungel nicht zurechtfinden oder leicht vergessen werden, wie Kranke und Alte. Gegründet hat sich der BSVE, der 800 Mitglieder zählt, als die Menschen in den ersten Tagen nach dem Unglück feststellen mussten, dass die Versicherer erst mal auf Tauchstation gingen, dass die Verwaltung statt Geld Formulare verteilte und die Leute per Verordnung daran hinderte, in ihren Häuserresten nach Persönlichem zu suchen. „Wir nehmen Leute an die Hand, die im Umgang mit Behörden, Banken und Versicherungen nicht zurechtkommen, die nicht so gut für sich selbst sprechen können“, sagt Nahrin Malki, eine zierliche junge Frau mit langem, dunklem Haar, die in Istanbul geboren wurde und seit zwanzig Jahren in Enschede lebt. „Menschen mit Beschwerden hören oft seit Monaten den Satz: ,Das ist doch normal nach so einem Erlebnis.‘ “, sagt Esther Kamerich. „Die möchten im Grunde lieber mit ihrer früheren Nachbarin ,darüber‘ reden, beim Kaffee, nicht auf der Therapeutencouch. Und das können sie hier.“
Nahrin Malki, die am 13. Mai eine Stunde vor der Explosion beim Verlassen ihres Hauses den Brand von S. E. Fireworks gemeldet hatte und bei ihrer Rückkehr in Enschede zum Glück ihre Angehörigen unversehrt fand, will zurück. „Wir haben vor drei Jahren dort angefangen, mein Mann und ich“, sagt die 25-Jährige. Beim Wiederaufbau will sie wie alle im BSVE mehr als nur ein Wörtchen mitreden. „Wenn wir schon nicht in das Gebiet dürfen, wann immer uns danach ist, wollen wir wenigstens dafür kämpfen, dass Roombeek so wird, wie wir uns das vorstellen.“
Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Die Stadt hat nach Abstimmung mit allen Beteiligten entschieden: Der Wiederaufbau des Viertels soll Sache seiner Bewohner sein. In Umkehrung des gängigen Verfahrens von Planung, Auslegung und Einwendungsmöglichkeit wollen sich Stadtplaner und Gemeinde ausdrücklich nach den Wünschen jener richten, die zurückwollen. „Denke mit, plane mit. Ideen für Roombeek-West“, steht auf den grauen Wahlurnen, die die Stadt an dreißig Orten aufgestellt hat. Bis Ende Januar können die Enscheder so, aber auch übers Internet, mitbestimmen, wo ab Mitte 2002 Wohnungen, Schulen, Spielplätze gebaut, wo Grünflächen, Wasser und Gewerbeflächen projektiert werden.
Viele wollen zurück
„Was dabei herauskommt, wissen wir noch nicht“, sagt Jan-Nico Wigboldus, Mitarbeiter im Bau- und Umweltdezernat. „Aber erste Gespräche des Architekten mit den Bewohnern haben ergeben, dass wir uns am historischen Charakter Roombeeks orientieren werden.“ Im Falle der denkmalgeschützten Backsteinbauten am Rande des „Kerngebiets“ hat die Stadt bereits signalisiert, dass ihr die Erhaltung eines jeden dieser Häuser 400.000 Gulden wert ist. „Unser Vorgehen hat auch einen therapeutischen Effekt“, so Wigboldus. „Indem sie ihre Zukunft mitgestalten, verarbeiten die Menschen das Trauma vom 13. Mai.“
Zwischen 50 und 80 Prozent ihrer Mieter, die zur Zeit in Sozialwohnungen anderswo untergebracht sind, wollen nach Angaben zweier Wohnungsbaugesellschaften zurück, wenn 2003 die ersten Häuser bezogen werden können. Gewerbetreibende seien zögerlicher, weiß Jan Scholten, der in Kooperation mit der Industrie- und Handelskammer geschädigte Unternehmer berät (siehe Kasten). „Die wenigsten wollen sich auf ein drei- bis fünfjähriges Provisorium einrichten, nur um dann noch einmal von vorn anzufangen“, sagt Scholten: „Das wäre das Ende ihres Geschäfts.“
„Wir sind umgezogen“, heißt es denn auch mehrfach in schwarzen Lettern am Zaun, der Fußgängern in Enschedes belebter Deurningerstraat kaum einen Meter Platz lässt. Eine Familie Wolff dagegen beteuert neben einer Kinderzeichnung: „Wir kommen wieder.“ Wenige Meter weiter fordert die Neue Kommunistische Partei Wohnraum zum Tarif vom 13. Mai an einem Ort eigener Wahl und trauert „um die Opfer der Katastrophe, um die Opfer des kapitalistischen, freien Marktes“. Dann aber: „Kein Feuerwerk zu Silvester!“ Einer Umfrage der Presseagentur ANP zufolge befürchten mehr als die Hälfte der Enscheder Tumulte für den Fall, dass in ihrer Stadt Feuerwerk gezündet wird. Ein Komitee, das zunächst ein Verbot durchsetzen wollte, dann aber dem Bürgermeister 40.000 Unterschriften gegen die Silvesterknallerei überreichte, organisiert nun am Sonntag einen Fackelzug durch das „Kerngebiet“. Und hofft auf freiwillige Enthaltung – aus Pietät. Ein Spektakel wird es allemal: durch die Medien, die sich angekündigt haben, um live dabei zu sein, „wenn’s doch einer tut“.
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