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Solitär aus Beton

aus Binz THOMAS GERLACH

Der Mann hat Beton im Kopf. Keine Brocken, sondern Wellen, Kugeln und Muscheln, leicht, sanft und gezackt. Skulpturen aus Wasser, Sand und Zement modelliert und hineingestellt in die genormte Welt der Betonplatte. Vorbei. Die Werkstatt ist dicht, nur der Meister ist noch da.

„Wenn der Abriss des ‚Ahornblattes‘ meine Schalenbauten wieder ins Gespräch bringt, hatte das ja was Gutes.“ Ulrich Müther redet wenig und stapft über die Strandpromenade von Binz, leicht federnder Gang, hängende Schultern, halb Deichgraf, halb Don Quixote. Wie ein Pensionär flaniert er nicht, dafür ist der 65-Jährige zu schnell, zu sportlich fast. Zeit für einen Gruß findet er, für ein Gespräch nicht, erstaunte Blicke hinterdrein. Hat der Ulrich noch was vor? Noch sind nicht alle Messen gesungen. Müther hat sein Leben lang konstruiert und gebaut, „hyberbolische Paraboloide“. Leicht näselnd wie alle Pommern intoniert er seinen Lebensformel – die doppelt gekrümmte Betonschale. Es ist ein Requiem, die letzte Mischung längst erstarrt, jetzt wird abgerissen. Das „Ahornblatt“ von der Fischerinsel liegt auf irgendeiner Deponie. Steinernes DDR-Laub – zerkleinert, zerrupft, kompostiert, vielleicht noch tauglich als Straßenunterbau. Die neue Zeit hat die Großkantine weggezaubert, geräuscharm und in Zeitlupe, mit Greifer und Abrissbirne. Sozialistische Bauherren ließen effektvoll sprengen – Schlösser, Kirchen und Herrenhäuser, ein barockes Spektakel. Heutige Städtebauer bevorzugen verfeinerte Methoden, reden von Verwertungsdruck und Rückbau. Die Investoren der Fischerinsel sprachen über Bebauungskonzepte und Rentabilitäten, schlossen mit der Stadt Berlin einen öffentlich-rechtlichen Vertrag, anerkannten die „Denkmaleigenschaften des ‚Ahornblattes‘ ausdrücklich und unwiederruflich“ – und rissen es ab. Zuvor entließ die Denkmalschutzbehörde die gezackte Hülle aus der Liste schutzwürdiger Bauten. Entlassung und Exekution. Ist das möglich? Ulrich Müther stapft vorwärts. Wer hätte denn ahnen können, dass ein denkmalgeschützter Bau abgerissen wird? In der Hauptstadt schlugen die Wellen nicht sehr hoch. Ausgerechnet an Müthers zeitlosen Bauten klebt der Ulbricht-Honecker-Staat wie Schimmelfäule, obwohl sich gerade Müther mit seinen Konstrukten von der Platte verabschiedet hatte. Deswegen fallen sie nun als DDR-Architektur auf. Wer macht sich dafür stark? Die Fachpresse redet von DDR-Moderne. Könnte sie da nicht gleich von mongolischem Jugendstil schwärmen?

Meeresrauschen, Möwenkreischen, die Fähre kommt von Norden – Ostseeidyll. Und Berlin ist weit weg. Hätte sich Müther stärker für seinen Bau einsetzten sollen? Es ist seine Idee, seine Kopfgeburt, sein steinernes Kind. Aber wann? Als die Abrissdiskussion begann, stand Müthers Baufirma hier, die schon seinem Vater gehörte, kurz vor der Pleite. Müther stapft weiter, zum Rettungsturm, den er gebaut hat, der aussieht wie eine riesige Linse mit Augen, die auf einem Bein stakt, ein Bote vom Raumschiff Orion, zwischengelandet in Binz. Elastisch springt Müther auf die Treppe, inspiziert kurz, streicht mit der Hand über den Beton. Solide Arbeit, das hier steht noch. Hier ist er Kapitän, diese Schale hat er zurückbekommen, einen Winter lang. Bis zur nächsten Badesaison bleibt es seine Rettungskapsel. Hier kann er zwei Meter über dem Strand sitzen und aufs Meer schauen. Hier kann er erzählen, vom DDR-Schalenbau. Workshops will Müther hier veranstalten. Erstaunlich groß ist das Ding, 30 Leute passen hinein, und stabil ist’s offenbar auch. Die Kapsel wird seine PR-Agentur, einen Winter lang. Das Pendant am anderen Ende des Strandes ist weggezaubert wie das „Ahornblatt“, zurückgekehrt zum Mutterschiff, sein Schöpfer blieb zurück. Ulrich Müther schweigt über Stolz und Kränkung, verbergen kann er sie nicht. Woher er denn seine Ideen habe? „Gott ja ...!“ Müther kennt das Meer, besitzt ein Boot, und spuckt überraschend schnell den Satz aus: „Die Muschel ist das schönste Bauwerk, das die Natur geschaffen hat.“ Teil zwei seiner Lebensformel.

Beton hat keinen guten Ruf: Mauer, Platte, Bunker – Beton steht für Kalten Krieg und Betonköpfe, für Tiefgarage und Bausünden, für Autobahn und Raketensilos. Beton wird aus Zement, Kies und Wasser geboren, ist kalt, schwer und tot. Vielleicht hat Ulrich Müther das geahnt und sich als Landbaumeister bezeichnet, obwohl seine großen Bauten in Städten stehen. Beton ist aus der Mode gekommen. Architekten bauen heute aus Glas und Stahl, unterkühlt und transparent. Alles ist geschraubt, montiert und glatt. „Plattenbau hab’ ich nie gemacht, das war unter meiner Würde.“ Müther flüstert fast, Dramatik war nie sein Fach. Leise Silben, pommerscher Akzent, so einer hält keine Reden, so einer baut. Wenn er kann.

Binz ist wieder mondän geworden, Müther ist pleite. Der Ingenieur hat sich im ersten Haus am Platze ein Bier bestellt, in marineblauer Strickjacke mit aufgesticktem Anker am Ärmel wirkt er wie ein Kapitän. Wie einer, der noch Ziele hat, aber keine Mannschaft. „Natürlich sind das Kulturbanausen“, brummelt er. Das Schicksal des „Ahornblattes“ ist auch sein Schicksal. Geht so etwas ohne Kränkung ab? „Kulturbanausen“ bleibt die heftigste Attacke. Er nippt am Bier, schaut hinüber zur Villa „Kometh“ mit seinem Türmchen. Dort hat er vor kurzem eine Wohnung bezogen, sein Haus ist geräumt. Der Flachbau aus den 70ern steht zum Verkauf – Konkursmasse. Plötzlich ein Ruck: „So, Sportsfreunde, dann fahren wir mal!“

Binz ist mehr als Wasser und Strand. Müther sitzt entspannt im Auto, legt die Hand über die Fahrerlehne, Reiseführer und Betriebsdirektor in einem. „So, das war meine Firma und daneben, den Baumarkt, den hab ich nach der Wende eröffnet.“ Konkursmasse jetzt. Hier hat er experimentiert, mit Betonschalen und später mit der Marktwirtschaft. Das erste ging gut, das zweite nicht. Müther hat den VEB Spezialbetonbau nach der Wende übernommen. Der Ingenieur wurde Chef, zahlte seinen alten Kollegen Tariflohn. Die Baubranche ging den Bach runter, Rechnungen blieben unbezahlt, zwei Millionen Mark Außenstände, auch bessere Betriebswirte hätten das nicht gepackt. Nebenan schwingt sich die Bushaltestelle, 1963 der erste Mütherbau, eine hauchdünne Welle aus Beton, federleicht und gut gelaunt, ein Zukunftsbau. Doch die Zukunft hat eine andere Richtung genommen. Was kann der Beton dafür? „Einige werden sich gefreut haben, dass wir kaputt gegangen sind.“ Die Insel ist klein, jeder kennt jeden, und außer Tourismus läuft nicht viel. Da wecken Überflieger Stolz und Neid gleichermaßen. Wer ist hier groß rausgekommen? Der Ulrich schon. Müther inspiziert aus dem Auto heraus seinen alten Firmensitz. Ein US-Straßenkreuzer steht geparkt, der „Limousine-Service Binz“ ist hier eingezogen. „Los, Sportsfreunde! Weiter geht’s.“

Ein glattes Asphaltband führt parallel zur Küste hinaus in die Vergangenheit. Hitler liebte Beton: Autobahn, Westwall und Bunker. Und den „Koloss von Prora“, die „Kraft durch Freunde“-Erholungsfabrik am Rande von Binz, die in der DDR zur NVA-Kaserne befördert wurde. Steinernes Grau verstellt meilenweit den Blick aufs Meer. Die Asphaltstraße ist von einer Betonpiste abgelöst, Gras wächst aus den Fugen. Jemand preist Räucherfisch an. Kilometerlange Trostlosigkeit, keine Kraft und gar keine Freude. Am Stabsgebäude am Großen Platz endet die Expedition. Hoch oben über der Turnhalle schließt Müther sein Reservat auf. 60 Meter Flur, fünf Türen, Linoleum lässt Sohlen quietschen, Schlüssel rasseln. Bücher, Akten, Videos, Zettel, Kisten, Tagebücher, Modelle, Messgeräte. DDR-Baugeschichte – 15 Meter lang, drei Meter breit, Regale, Robotroncomputer, ein Berg aus Papier, ein Gummibaum, ein Schild „Forschungsstelle Schalenbau“, Müthers gesammeltes Wissen, endgelagert unter den Decken eines Nazi-Baus. Im Sommer tagte hier ein Symposium, 120 Teilnehmer. Architekturstudenten aus Aachen und Dresden besuchen Müther, stöbern hier. Um den Ingenieur schart sich eine Fangemeinde. Im fernen Berlin zeigt eine Fotoausstellung Bilder über die Vernichtung des „Ahornblattes“ neben Bildern von antiken römischen Fassaden, Katakomben, die päpstliche Engelsburg. Müther kam zur Eröffnung, unterm Arm das Buch „Kühne Solitäre – Der Schalenbaumeister der DDR“. Die einen reißen Müthers Bauten ab, andere verehren den Meister, wieder andere haben ihn bereits in die Bibliotheken verfrachtet.

Das „Ahornblatt“ ist abgerissen, die Stadthalle in Neubrandenburg wird saniert. Es geht auch anders. Müther hält ein Modell in den Händen, hoch aufgereckte Falten formen ein Dach. So könnte das neue Tempodrom in Berlin aussehen – aus doppelt gekrümmten Spritzbetonschalen. Nein, diesmal nicht Müthers Idee, Geschichte wiederholt sich nicht. Er schreibt ein Gutachten, vielleicht wird es so gebaut. Ulrich Müther präsentiert das Modell wie Gebäck, steckt die Papierfalten zusammen. „Man hat noch ’n bisschen Ehrgeiz.“ Nein, charismatisch ist er nicht. Egal, Beton ist’s auch nicht. Das Ende des „Ahornblattes“ hat im wortkargen Ulrich Müther so etwas wie Leidenschaft entfacht. Abservieren lässt er sich bestimmt nicht mehr. Er will nicht mehr abgerissen werden, sondern wieder bauen. Hier unterm Dach könnte die Firma wieder arbeiten, sollen die Investoren sehen, was man alles machen kann aus Beton. Ulrich Müther hat genug davon im Kopf – und das Zeug hält was aus.

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