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Die neueste Feinschmeckerei

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Sogar Feldsalat verzehrend wirken wir mit am universalen Schuld- und Verblendungszusammhang

Was weiß man denn schon, womit die leckeren Fische gefüttert wurden, die jetzt allenthalben verzehrt werden? Wer weiß, wo der frische Feldsalat angebaut wird? „Berliner Zeitung“, 27. 12. 2000

Aus weiter Ferne betrachtet, nimmt sich die Geschichte noch seltsamer aus.

Die letzten 50 Jahre hat man sich in unseren Breiten erfolgreich damit beschäftigt, den Hunger abzuschaffen. Selbst die Ärmsten der Armen, an Nahrung mangelt es ihnen nicht, was zu einem drastischen Wechsel der Ikonografie führte: War einst der Bürger durch Fettleibigkeit darstellbar („stattlich“), und der Bettler durch Magerkeit, so drehte sich das Schema im Lauf der Zeit um. Heute ist der Spitzenmanager schlank, wenn nicht mager, und den Bettler kennzeichnet der dicke Bauch.

Die Anthropologen wissen, dass die Produktion und der Verzehr von Lebensmitteln in vielen Gesellschaften innig mit deren zentralen Mythen und Ritualen verwoben sind. Die vulgärmarxistische Konzeption von „Grundbedürfnissen“, die notfalls mit Sättigungsbeilagen zu stillen sind, war theoretisch schlecht informiert – wie hier gleich die Mythologie eingreift, erkennt man an der Umrissklarheit, mit der das Wort „Sättigungsbeilage“ die ganze Geschichte der DDR umfasst.

Als Kind in Nachkriegsdeutschland musste ich dank elterlicher Umsicht nie richtig hungern; es war nur alles sehr knapp. Und in den Fünfzigern kam rasch die „Fresswelle“ auf, die Eltern, Tanten und Onkels wieder sehr stattlich machte (eine besondere Rolle spielte dabei der Bückling, der massenhaft als Delikatesse verzehrt wurde und halt sehr kalorienhaltig ist). Auf die Fresswelle folgte bald die „Edelfresswelle“, ein erster Versuch in cuisine, deren Archäologie man heutzutage in gewissen kleinbürgerlichen Lokalen betreiben kann, die programmatisch „deutsche Küche“ anbieten; wenn mich diesbezüglich Heimweh ergreift, gehe ich freilich zum Kroaten.

Aber das ist alles Vorgeschichte, die, wie gesagt, im Wesentlichen nur noch archäologisch zugänglich ist. Die ungebremste Fresslust der Nachkriegszeit („Schnitzel: groß wie Klosettdeckel“) gilt in unseren Kreisen längst als unfein und ungesund – und aus haargenau diesen beiden Einschätzungen bildeten sich die neuen Mythen und Rituale betreffs Essen, die einschlägigen Verfeinerungen des Geschmacks, auch wenn sie dann mit ganz anderen als kulinarischen Erwägungen erläutert werden. Am einfachsten erkennbar macht sich die Fraktion der haute cuisine, die sozial längst bis zu den Studien- und sogar den Amtsräten hinunterreicht. Letzten Herbst war ich das erste Mal zu einem entsprechenden Festessen geladen. Es war, pflege ich von diesem Festessen zu erzählen, als würde man mit Pralinen gemästet.

Weit aufschlussreicher und aufregender gestaltete sich freilich die Feinschmeckerei, die von Gesundheitsideen geleitet wird und die gegenwärtig in der so genannten BSE-Krise kulminiert. Hier tritt der kulinarische Grundgedanke des differenzierten Wohlgeschmacks völlig zurück; die Nahrung und ihre Zubereitung treten wieder in die ausgreifenden Mythologien ein, die eine Zivilisation über sich selbst und ihre Position im Weltganzen bildet.

Wie inzwischen jeder weiß oder wissen sollte – sagt die neueste Feinschmeckerfraktion vorwurfsvoll –, ist die Stellung, die wir auf Grund unserer Ernährungsgewohnheiten im Weltganzen einnehmen, äußerst prekär, sogar verbrecherisch. Die betroffenen Rinder – sagt die begleitende Mythologie – schlägt nicht einfach eine rätselhafte Krankheit, deren Ursachen und Übertragungswege uns (noch) unbekannt sind, keineswegs, das kranke Rind ist ein Zeichen, das uns das Weltganze über unsere verfehlte Lebensweise gibt („die Natur schlägt zurück“).

Das Ritual, das diese Mythologie begründet, ist eines der Säuberung. Nimm kein Rindfleisch in deinen Körper auf, auch nicht in winzigen, abgeleiteten Spuren (die eine Hermeneutik des Verdachts zu entziffern vermag), dann bleibst du rein und unbedroht. Das Ritual, einfach die ganze Herde abzumurksen, in der sich ein krankes Tier befand, entspricht zwar dem Gedanken der Säuberung perfekt; ich persönlich kann mich des Eindrucks der Barbarei freilich schlecht erwehren (ein Eindruck, der bei drastischen Reinigungsritualen übrigens leicht entsteht).

Aber, wie gesagt, das Tier ist kein Tier, sondern ein apokalyptisches Zeichen. Wobei ich besonders lehrreich die Sache mit dem Tiermehl finde, von dem die Mythologie mit absoluter Gewissheit – die Fachleute zweifeln wohl noch – weiß, dass seine Verfütterung an das Pflanzen fressende Rind den Infektionsweg darstellt; diese Gewissheit scheint mir so etwas wie das funktionale Äquivalent der Erbsünde im Christentum.

Zoologen können erklären, dass die Grenzen zwischen Pflanzen- und Fleischfressern keine absoluten sind. Ohnedies gewinnt man bei jener Definition unserer Ursünde durch die neueste Feinschmeckerfraktion wiederum den Eindruck, dass hier ein hochsymbolischer, der Traumlogik folgender Zeichenprozess abrollt, ungefähr so: Weil das Rind, das wir ungestraft essen dürfen, sich ausschließlich von Gras und Klee genährt hat, sind wir praktisch auch Pflanzenfresser geworden – wie uns umgekehrt das Rind, das durch Fleischverkehr krank wurde, offenbart, Fleischverzehr schadet dem Menschen ebenso wie dem Planeten, das lehren die Vegetarier, die in unseren Kreisen zahlreich vertreten sind, doch schon so lange; und die Veganer – „die Hisbollah unter den Vegetariern“ – haben genau die Hermeneutik des Verdachts, die mein Eingangszitat auf Fisch und Feldsalat anwendet, seit langem auf Kuchenstücke ebenso wie Klamotten ausgedehnt. Auch wer Lederschuhe trägt oder schafwollene Pullover verzehrt Tier und verstößt gegen die kosmische Ordnung. Und sogar Feldsalat verzehrend wirken wir mit an dem universalen Schuld- und Verblendungszusammenhang.

Der Verzehr von Lebensmitteln ist innig mit gesellschaftlichen Mythen und Ritualen verwoben

Ich will nicht verhehlen, dass ich in der Häme, mit der Leitartikler ebenso wie Leserbriefschreiber eifrig die Fleischesser übergießen, den Sound des Klassenkampfes vernehme (den uns Pierre Bourdieu auf diesem Feld zu identifizieren gelehrt hat). Spaghetti mit sautierten Zucchini und obendrauf ein bisschen Parmesan geraspelt: Das ist zwar sündenfrei, richtet sich aber gleichzeitig mit zugespitzter Polemik gegen die Traumkost der lower classes. Haben sie mit ihrem hemmungslosen Fleischhunger uns diese ganze Chose nicht eingebrockt? So wie sie mit ihrem Massentourismus die exklusiven Reiseorte ruinierten?

Zweitens verdeutlicht die so genannte BSE-Krise wieder einmal, wie das Zentralproblem dieser Zivilisation – seit sie mit der Sexualität ihren Frieden machte – die Aggression bildet. Wie bei vielen Tieren setzt unsere Ernährung das Töten voraus, also Gewalt, und die ergibt ein durchdringendes Schuldgefühl. Könnte uns Mutter Natur, wenn wir wieder artig sind, nicht wieder zahnlos säugen?

Diese Geschichte, liebe Kinder, erzähle ich euch vielleicht ein andermal.

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