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Archiv öffnet Türen

Polen bekommen jetzt erstmals Zugang zu ihren Stasiakten. Öffentlichkeit reagiert weit gehend positiv

WARSCHAU taz ■ Einen dicken Umschlag vom Warschauer „Institut des Nationalen Gedenkens“ (IPN) werden 2.000 polnische Stasiopfer in den nächsten Tagen erhalten. Sie dürfen als erstes einen Antrag auf Akteneinsicht stellen. Das Formular dürfte manchen abschrecken. Denn die Opfer müssen auflisten, unter welchen Adressen sie seit dem 18. Lebensjahr gemeldet waren und gewohnt haben, wann sie Wehrdienst geleistet, wie oft sie sich um einen Pass bemüht haben. Sie müssen angeben, welchen Organisationen und Vereinen sie angehört haben, ob sie im Zeitraum 1945 bis 1989 in der Opposition engagiert waren, ob und wenn ja, wie oft sie verhört wurden.

Leon Kieres, Chef der polnischen „Gauck-Behörde“, glaubt, ohne diese Angaben die Opferakten nicht finden zu können. Eine „Akte“ gebe es nämlich gar nicht. Die verschiedenen Geheim- und Sicherheitsdienste hätten die zu einer Person gesammelten Informationen nicht in einer Akte gesammelt, sondern jeweils neue Akten angelegt, neben Personenakten auch solche für Organisationen oder Vorgänge.

Die Mitarbeiter des IPN werden also erst die „Akte“ zusammenstellen. Dies könne sechs Monate und länger dauern, warnte Kieres. Das IPN, das erst 2000 seine Arbeit aufnehmen konnte, besitzt noch immer kein eigenes Archiv für die geschätzten 20 Kilometer Stasiakten.

Die zusammengestellte Akte wird keine Namen enthalten. Sie werden alle geschwärzt. Erst auf speziellen Antrag werden die Namen offengelegt, jedoch nicht alle. Die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, die heute noch in vergleichbaren Positionen für den nun demokratischen Staat arbeiten, haben nichts zu befürchten. Weitere objektive Kriterien für die Aufdeckung der Namen gibt es nicht. Die Opfer können den Behördenentscheid beim Obersten Verwaltungsgericht überprüfen lassen.

Zunächst, kündigte Kieres an, werden Personen ihre Akten einsehen dürfen, die „sich um Polen verdient gemacht“ haben, wie etwa Polens Außenminister Wladyslaw Bartoszewski. Vorrang hätten ferner Alte und Kranke, erst danach würden die Akten nach Antragseingang bearbeitet.

Die Öffentlichkeit beurteilt den lang erwarteten Zugang der Opfer zu ihren Akten weit gehend positiv. Nur die größte Tageszeitung Gazeta Wyborcza hat Bedenken. Der frühere Vizeinnenminister Jan Widacki spricht sich für eine 50-jährige Karenzzeit aus. Wenn die Archive dann erst zugänglich gemacht würden, hätten sich die Gefühle der Opfer abgekühlt. GABRIELE LESSER

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