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taz-serie: kippt der osten?DIETER VESPER zu den Thierse-Thesen

Eine notwendige Diskussion

Der Osten steht „auf der Kippe“: Mit diesem Satz hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) bundesweit eine erregte Debatte ausgelöst. In Berlin blieb es bislang merkwürdig still. Sind in der Region bereits alle Probleme gelöst? Oder werden sie von der Politik nur ignoriert? In der taz antworten Prominente aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

Berlin liegt mitten in Ostdeutschland – eine banale Erkenntnis. Doch zeigt sie, warum sich auch die Hauptstadt mit den Thierse-Thesen auseinander setzen muss. Wie eng Berlin – Westteil wie Ostteil – an die ostdeutsche Entwicklung gekoppelt ist, lässt sich aber an der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre ablesen. Zunächst profitierte (West-)Berlin enorm vom Fall der Mauer und von dem Vereinigungsboom. Gleichzeitig durchschritt (Ost-) Berlin noch heftiger als die ostdeutschen Flächenländer das Tal der Tränen, als dort die wirtschaftliche Basis, insbesondere die Industrie, einem Kartenhaus gleich zusammenbrach. Weder Produktionsprozesse noch Produkte konnten im internationalen Wettbewerb mithalten. Zusätzlich verlor Ostberlin seine „Hauptstadtfunktion“ und Arbeitsplätze in der staatlichen Administration.

Aber auch der Anpassungsprozess in den Jahren, nachdem der Vereinigungsboom abgeklungen war, brachte immer wieder Rückschläge. Und dies, obwohl die Investitionstätigkeit in Ostdeutschland mit enormen öffentlichen Mitteln gefördert wurde. Ein Grund waren sicherlich die ungünstigen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die diesen Prozess erschwerten. Ein anderer, dass Produktivität und Einkommen auseinander klafften und immer noch klaffen.

In Berlin kam noch ein weiterer Faktor hinzu, die Konsolidierung im Landeshaushalt. Während im Bundesdurchschnitt Länder und Gemeinden ihre Ausgaben von 1995 bis 1999 um 10 Prozent ausweiteten, sind sie in Berlin um 5 Prozent gesenkt worden. Fraglos war diese Konsolidierung notwendig. Doch steht ebenso außer Frage, dass die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt dadurch beeinträchtigt wurde; nicht von ungefähr bildet die Stadt seit Jahren das Schlusslicht in der wirtschaftlichen Entwicklung.

Ein anderer Grund für die schlechte Performance ist die geringe Exportbasis – es werden zu wenige Einkommen in der Stadt im Wirtschaftsaustausch mit anderen Regionen erzielt. Hinzu kommt, dass vermehrt das Umland als Standort gewählt wurde. Hoch verdichtete Gebiete mit knappen Flächen eignen sich nicht für Industrieansiedlungen. Auch bei den „höherwertigen“ produktionsorientierten Zentren hinkt die Stadt trotz aller Fortschritte den etablierten Diensten noch hinterher. In den nächsten Jahren wird sich hier sicherlich manches zum Positiven verändern, vor allem, wenn Berlin seine Standortvorteile (Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, Kultur) nutzt. Ein Übriges wird die „Hauptstadtwerdung“ beitragen. Für Berlin sind die längerfristigen Perspektiven günstiger als die gegenwärtige Lage.

Und trotzdem wäre es auch und erst recht für Berlin verheerend, wenn die Stadt im Zuge der Solidarpaktverhandlungen auf Transferzahlungen verzichten müsste. Nicht nur sind die Haushaltslücken noch immer viel zu groß. Auch die Infrastruktur – im Ostteil weit mehr als im Westen – weist gewaltige Defizite auf. Zudem ist der Zustand vieler öffentlicher Einrichtungen beklagenswert. Ohne die Bundesergänzungszuweisungen und den Länderfinanzausgleich wäre die Stadt finanziell nicht überlebensfähig. Trotz aller Konsolidierungsbemühungen befindet sich Berlin bereits heute am Rande einer Haushaltsnotlage.

So gesehen handelt Thierse im Berliner Interesse, wenn er auf eine Weiterführung der Transfers, auf einen Solidarpakt II dringt. In jedem Fall hat er eine notwendige Diskussion angestoßen, die nicht nur in kleinen Fachzirkeln, sondern auf breiter Basis geführt werden muss.

Dieter Vesper ist Haushaltsexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)

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