opec-prozess: Abschied von der Rache
Anfrage eines deutschen Hörers an Radio Jerewan: „Stimmt es, dass bei Strafprozessen nur geltendes Recht angewandt werden kann? Dass also beim Mordprozess gegen Hans-Joachim Klein die Kronzeugen-Regelung ausscheidet, da sie ausgelaufen ist?“ Antwort des Senders: „Im Prinzip ja. Außer der Täter hat sich inzwischen so verändert, dass er eigentlich mit sich selbst nicht mehr identisch ist. Er ist vielmehr seinem Wesen nach zum Zeugen seiner eigenen Tat geworden, so dass die Kronzeugen-Regelung auch nach ihrem Ablauf auf ihn anzuwenden ist.“
Kommentarvon CHRISTIAN SEMLER
Stimmt diese Antwort von Radio Jerewan? Im Prinzip nein, aber im Ergebnis ja. Denn was rechtsstaatlich bedenklich erscheint, dient eindeutig einem anderen wichtigen Gut, dem Rechtsfrieden. Mit seinem milden Urteil von neun Jahren hat das Gericht doch noch von einer Praxis Abstand genommen, die seit den 70er-Jahren die Reaktion der Justiz auf den politischen Terrorismus bestimmte: die Strafverfolgung bis zum bitteren Ende, die Praxis der Rache.
Während in anderen Justizsystemen schon in den 70er-Jahren erfolgreich mit den Terroristen verhandelt und Kompromisse geschlossen wurden, blieben in Deutschland der politische Mainstream und die dritte Gewalt unerbittlich. Schon damals wunderten sich amerikanische Kriminologen über diese deutsche Sturheit – sie selbst hatten soeben die Auflösung einer US-Terrorgruppe ausgedealt, indem sie maximale Strafen von zwei Jahren zusicherten.
Da der deutsche Staat jeden Ausflug aus dem gepanzerten Gehäuse der Rechtsverfolgung ablehnte, hatte er nichts zur Befriedung der Republik beizutragen. Dass die terroristischen Gruppen schließlich der Gewalt abschworen, war die Reaktion auf einen Lernprozess in den linken Szenen: Sie überwanden den Gewaltfetischismus und setzten auf die neue Praxis des zivilen Ungehorsams innerhalb des Prinzips der Gewaltfreiheit.
Die Justiz und große Teile der Machtelite hingegen taten sich schwer mit dem, was sie zu lernen hatten. Bis in die jüngste Zeit gilt das Gewaltmonopol des Staates als Fetisch, als eigentliches Unterpfand der Souveränität. Kompromisse auf diesem Feld rüttelten angeblich an den Grundfesten des Gemeinwesens. Bezeichnet das Urteil im Klein-Prozess nur einen historischen Schlussstrich, oder unterstreicht es einen Prozess des Umdenkens auf Seiten der Justiz? Wir werden sehr bald Gelegenheit haben, uns anlässlich der Castor-Transporte ein Urteil zu bilden.
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