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„Er will nur laufen dürfen“

Nach acht Jahren an der Spitze des Deutschen Leichtathletik-Verbandes endet heute die Präsidentenzeit von Helmut Digel, die zuletzt vom Dopingfall Baumann überschattet war

Interview FRANK KETTERER

taz: Herr Prof. Digel, mit 57 Jahren scheinen Sie noch etwas zu jung, um sich schon aufs Altenteil zurückziehen zu können. Sportfunktionäre starten in diesem Alter für gewöhnlich doch erst so richtig durch.

Helmut Digel: Ich werde mich ja nicht gleich aufs Altenteil zurückziehen, sondern habe noch meine Posten als Vizepräsident im Nationalen Olympischen Komitee und dem Leichtathletik-Weltverband IAAF. Andererseits ist es schon so, wie Sie angedeutet haben: dass das öffentliche Image des internationalen Sports nicht gerade positiv geprägt ist, wenn man die Altersstruktur des Führungspersonals betrachtet. Deswegen ist es zwingend angebracht, jungen Frauen und Männern die Möglichkeit zu eröffnen, bis in die höchsten Positionen vorzudringen. Und dazu braucht es kürzere Amtszeiten. Außerdem ist man nach acht Jahren in einigen Bereichen auch etwas verbraucht.

Der Fall Baumann samt dem gesamten Hickhack ums Startrecht, die daraus resultierende Kollektivsperre für deutsche Läufer bei der Hallen-WM sowie die ganzen Auseinandersetzungen mit der IAAF, zudem das desaströse Abschneiden der deutschen Athleten in Lissabon – ist das wirklich der richtige Zeitpunkt, um das Amt abzugeben?

Zunächst einmal übergebe ich einen Verband, der finanziell in bester Ordnung ist und der sich sehr positiv in diesen acht Jahren entwickelt hat. Wir haben einenKinder- und Jugendbeauftragten eingeführt, wir haben das Finanzcontrolling eingeführt, wir haben die Kooperation mit den Schulen zu neuem Leben erweckt, wir haben solide Kooperationen mit unseren Sponsoren aufgebaut und wir haben Mitglieder hinzugewonnen. Das sind alles wichtige Erfolgsindikatoren, die man beachten sollte, wenn man Verbandsarbeit bewertet.

Und die zuletzt doch von all den negativen Schlagzeilen im Sog des Dopingfalls Dieter Baumann überschattet wurden.

Das ist richtig. Und das tut weh, teilweise empfinde ich es auch als ungerecht. Vor allem aber finde ich es ungeheuerlich, dass wir nicht mehr in der Lage sind, der Öffentlichkeit klar zu machen, dass beispielsweise bei der Hallen-WM in Lissabon niemand gesperrt war.

Fakt aber ist, dass Jan Fitschen nicht am Start war, weil er zuvor gegen Dieter Baumann gelaufen war.

Fitschen war falsch informiert und verängstigt. Die IAAF hat den Fall öffentlich völlig falsch dargestellt. Es wurden in die Fernsehkameras hinein Lügen weitergegeben, die jeder Regelbasis entbehrten. Dabei sind die Regeln eindeutig, man hätte sie nur richtig lesen müssen. In all diesen Fällen, das ist die erste Bedingung, müsste zuerst der Athlet gehört werden. Und die zweite Bedingung ist, dass dann in einem ordentlichen Rechtsverfahren eine Entscheidung erfolgen muss. Dieses ordentliche Rechtsverfahren hätte vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Leichtathletik-Verbandes stattfinden müssen. Beide Bedingungen aber wurden nicht erfüllt, und dennoch sprach alle Welt über die Angelegenheit, als ob eine Sperre gegen Fitschen erfolgt wäre. Die aber gab und gibt es objektiv nicht. Die Öffentlichkeit wurde falsch informiert, was ich gar nicht den Medien vorwerfe, sondern vielmehr den Rechtsexperten. Einmal denen der IAAF, aber auch denen im DLV. Auch dort wurden Fehler gemacht.

Welche?

Man hätte den von mir immer geforderten Schritt, sich juristisch gegen die Entscheidungen der IAAF zu stellen, sofort gehen müssen. Dann wäre die Rechtssicherheit von Beginn an klar gewesen.

Deshalb haben Sie Jan Fitschen geraten, ein ordentliches Gericht gegen die IAAF-Entscheidung anzurufen.

Der DLV hat beschlossen, ihm die Anwälte zu bezahlen, eben um Rechtssicherheit zu erhalten. Man kann nicht verurteilt werden, ohne angeklagt zu sein. Genau so aber war das im Fall Fitschen. Das ist ein Verfahrensfehler. Auch Dieter Baumann wurde von der IAAF übrigens verurteilt, ohne dass er Angeklagter war.

Entstanden ist ein juristisches Verwirrspiel, das mit Sport nicht mehr viel zu tun hat. Wie sehr hat Sie das selbst erschreckt?

Was mich generell erschreckt, ist, dass man aus der Unfähigkeit des Sports heraus zunehmend die Hilfe der Juristen ruft und damit einen Prozess der Verrechtlichung erzeugt. Dabei ist es ja nicht so, dass es die Juristen hineindrängt in den Sport, sondern der juristische Rat immer mehr notwendig wird, weil der Sport selbst offensichtlich nicht ausreichend kompetent mit seinen Regeln umgeht.

Bei alledem bleibt die Geschichte von Baumanns Zahnpastaanschlag abenteuerlich. Wenn vor zwei Jahren ein ähnlich prominenter Athlet anderer Nationalität mit Nandrolon erwischt worden wäre und gesagt hätte: ‚Das Zeug hat mir jemand in die Zahnpasta geschmuggelt‘, dann hätte man diesem Athleten im DLV kaum über den Weg getraut.

Grundsätzlich: Ich traue keinem Fall über den Weg, auch jetzt noch nicht. Es gab vor Baumann genauso abenteuerliche Geschichten – und die Zahnpastatheorie ist eine abenteuerliche. Aber gerade deswegen müssen diese abenteuerlichen Geschichten von ordentlichen Gerichten geprüft werden. Und wenn dann unabhängige Juristen zu einer Bewertung kommen und sagen: ‚Wir glauben dem Verdächtigten‘, dann ist das zu akzeptieren. Das musste die IAAF ja auch in anderen Fällen tun.

Sie haben bei Bekanntwerden des Falls darauf hingewiesen, dass „auch in diesem Dopingfall nach denselben Regeln gehandelt wird, wie dies in allen übrigen Fällen bisher war“.

Und ich habe gesagt, dass, wenn Baumann Hilfe benötigt, man ihm Hilfe geben sollte. Diese Aussage möchte ich ganz bewusst ausweiten auf alle Athleten. Und vielleicht kann man uns in der Tat vorwerfen, dass wir eine solche Aussage gegenüber Susen Tiedtke oder Katrin Krabbe nicht gemacht haben. Athleten, die zu uns gehören, die Mitglieder unseres Verbandes sind, haben wir zu betreuen, auch wenn sie in Schwierigkeiten stecken. Aber, das muss bei alledem deutlich gemacht werden: Der Dopingbetrug ist nur möglich, wenn Athleten betrügen, die Ursache liegt nicht bei den Funktionären. Was Dieter Baumann anbelangt: Ich habe ihm zu keinem Zeitpunkt unerlaubt geholfen. Ich habe mit meinem Präsidium den Antrag auf Suspendierung wegen Dopingverdacht gestellt und das Verfahren eingeleitet. Dieter Baumann wurde von drei Juristen, denen des DLV-Rechtsausschusses, freigesprochen, von denen ich zwei noch nicht einmal kenne und die völlig unabhängig entschieden haben.

Dennoch wurden im Fall Baumann Dinge in Frage gestellt, die in keinem anderen Fall zuvor in Frage gestellt wurden. Zum Beispiel die Beweislastumkehr.

Das Prinzip der absoluten Verantwortlichkeit des Athleten wurde schon vorher in Frage gestellt, auch gerichtlich. Allerdings haben Sie Recht, dass wir über diesen Fall sehr vieles haben lernen müssen. Zum Beispiel, dass die Frage, wie eine verbotene Substanz in den Körper eines Athleten gekommen ist, einer juristischen Entscheidung bedarf und dass man dem Athleten eine Chance geben muss, sich erklären zu können.

Das bedeutet?

Das System als solches – Kontrolle, positive Probe, Suspendierung – ist nach wie vor wirksam. Hinzugekommen aber ist ein sehr viel schwierigeres Verfahren, wie über Schuld und Unschuld eines Athleten zu entscheiden ist. Da haben die Sportverbände zu akzeptieren, was in diesem demokratischen Rechtsstaat zu gelten hat. Der Sport kann sich nicht außerhalb dieser Regeln stellen.

Nun zählt die IAAF über 200 Mitgliedsverbände. Wie soll es da zu einem international gültigen Regelwerk kommen, wenn man nationales Recht dem Verbandsrecht überordnet?

Es gibt anerkannte Rechtsprinzipien, die weltweit von Juristen geteilt werden. Mit diesen anerkannten Prinzipien der Demokratien sollten die internationalen Regeln kompatibel sein. Noch wichtiger ist, dass man Instrumente hat, um seine internationalen Regeln durchzusetzen. Solange Mitgliedsverbände, die die IAAF-Regeln noch nicht einmal in ihren Satzungen verankert haben, finanziell gefördert werden, wird der falsche Weg gegangen. Und bei den Dopingkontrollen muss zumindest erwartet werden können, dass die Mitgliedsverbände sich einem An- und Abmeldesystem unterwerfen, damit man ihre Athleten überhaupt antreffen kann, wenn man sie kontrollieren möchte. Selbst von solchen Dingen ist man noch weit entfernt: Wir haben, wenn es hoch kommt, von 210 Mitgliedsverbänden 40, die im eigenen Land kontrollieren.

Wie sehen Sie die Zukunft der Leichtathletik?

Die Leichtathletik wird es schwer haben. Sie ist weltweit nicht in dem Aufwind, in dem sie sich gerne sieht. Eigentlich lebt die Leichtathletik nur in Europa, und da auch nur in wenigen Ländern. Schon im Ostblock ist sie keine lebendige Sportart mehr.

Der Trend bei Wettkämpfen geht hin zu den Laufwettbewerben und weg von den Technikdisziplinen. Ist das Zeitgeist?

Es ist auf jeden Fall ein großer Fehler. Die Leichtathletik müsste genau das Gegenteil machen: Sie müsste das Außergewöhnliche herausstellen und präsentieren. Hammerwerfen zum Beispiel ist etwas Außergewöhnliches, das müsste der Öffentlichkeit nur entsprechend vorgestellt werden. Aber das setzt Ideen voraus, neue Präsentationsformen. Die Leichtathletik wäre gut beraten, wenn sie ihre Vielfältigkeit kultivieren und sie mit neuen Kommunikationsinhalten versehen würde. Warum soll man nicht zwei Kugelstoßer gegeneinander antreten lassen und der bessere kommt eine Runde weiter?

Herr Prof. Digel, wie sehr sind Sie persönlich von der Unschuld Baumanns überzeugt?

Das ist für mich die schwierigste Frage überhaupt. Wenn es um Wissen geht, dann bin ich am gleichen Punkt wie vor eineinhalb Jahren. Dieter Baumann kann Opfer sein, Dieter Baumann kann aber auch Täter sein. Das habe ich in der ersten Stunde gesagt – und das sage ich heute immer noch. Ich habe aber eine private Überzeugung, weil ich über Insiderinformationen verfüge, die andere nicht haben: Ich kenne die Entwicklung des Athleten Baumann unter sportmedizinischen Gesichtspunkten.

Und?

Und da spricht alles dafür, dass Dieter Baumann wahrlich nicht ein Athlet war, der uns 15 Jahre lang betrogen hat. Viel entscheidender aber ist für mich ohnehin, dass Dieter Baumann jetzt Unrecht widerfährt. Er wurde freigesprochen und dann in einem Verfahren, das keines war, weil der Athlet nicht Angeklagter war, verurteilt. Dieter Baumann nimmt nun nur seine bürgerlichen Rechte in Anspruch und kämpft um sein Recht. Dass es Leute gibt, die ihm das absprechen wollen, empört mich. Baumann ist seit seinem 15. Lebensjahr Berufsleichtathlet – und er will nur eines: laufen dürfen. Darum zu kämpfen ist sein Recht, schon weil es auch um seine Zukunft geht. Ich weiß von Dieter Baumann, dass er mal im Plan hatte, Journalist werden zu wollen – aber glauben Sie, dass ihn zum Beispiel die taz nach alledem noch einstellen würde?

Es wäre zumindest nicht auszuschließen.

Das würde dann aber sehr für die taz sprechen.

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