: Ganz fremd, ganz nah . . .
Das Ost-West-Thema ist immer noch aktuell. Ein Gespräch über zwei Kulturen und die Veränderung von deutsch-deutschen Befindlichkeiten. Martin Hager und Stefan Schomann, beide aus Bayern, sprachen mit Sabine Berking, geboren in Leipzig, und Alexander Osang, geboren in Berlin (Ost)
Martin Hager: Alexander Osang, was hat Sie in die USA getrieben?
Alexander Osang: Ich habe zehn Jahre über die Ost-West-Probleme geschrieben und hatte die Schnauze wirklich voll. Zum Schluss habe ich auch eine bestimmte Haltung zu Berlin entwickelt, zu den Rissen, die durch die Stadt gehen. Besonders als die Regierung hierherzog und mit ihr viele Journalisten, die Berlin neu entdeckten und beschrieben. Plötzlich war der Ort total hip. Ich konnte das nicht ertragen, diese Euphorie. Ich habe es nicht so gesehen, nicht so empfunden. Um dich herum jubeln alle und sagen „Wahnsinn!“. Da kommt man schnell in diese klassische Berliner Wegbeißstimmung rein, nach der Art von „die Neuen, die kannst du alle vergessen“. Das ist für einen Journalisten das Ende. Und New York wird ja Berlin immer als Vorbild entgegengehalten. Vor der Wende war es zudem die unerreichbarste Stadt. Ich hätte früher nie geglaubt, jemals dorthin zu kommen.
Martin Hager: Bei so viel Abwehr gegen Berlin, warum sind Sie nicht schon früher aus der Stadt weggegangen?
Alexander Osang: Ich hatte lange das Gefühl, dass das Bild noch nicht ganz ausgemalt war. Selbst am Schluss hatte ich noch das Gefühl von so etwas wie Verrat, an welcher Sache auch immer.
Martin Hager: Um Verrat, in und an der Vergangenheit, geht es ja auch in Ihrem Roman „die nachrichten“. Bewegt dies, Frau Berking, die Leute mehr als die Probleme der ostdeutschen Gegenwart wie beispielsweise der Rechtsradikalismus?
Sabine Berking: Diese zwei Seiten der DDR, diese kleine, kuschlige Welt, und die Gewalt, gehören eindeutig zusammen. Beides erwächst aus diesem kleinbürgerlichen Nährboden. Im Osten sind die sozialen Strukturen auseinander gebrochen, die Schichten durcheinander gewirbelt worden. Jemand, der mal ziemlich weit oben war, ist jetzt plötzlich ein Frührentner, und einer, der vorher nichts darstellte, hat auf einmal das große Geld verdient.
Stefan Schomann: Was lösen diese Turbulenzen aus? Ist es die Angst vor Veränderung, vor zu viel Gegenwart?
Sabine Berking: Vielfach ist die Veränderung eigentlich nur äußerlich. Viele Bekannte, mit denen ich aufgewachsen bin, sind in Leipzig geblieben, als ob praktisch nichts passiert wäre. Sie haben diese Welt nie verlassen. Auch die Sprache hat sich nicht verändert.
Alexander Osang: Meiner Meinung nach hat die Sprache sich schon verändert. Da gab es verschiedene Phasen. Nach anfänglichen Versuchen, sich anzupassen, finden die Leute ganz bewusst zur alten Sprache zurück. Das ist die Endphase, die ich noch mitbekommen habe, dass sich die Leute in den Osten zurückfallen lassen. Auch mein Sohn, der dieses Jahr 18 wird und in Berlin-Lichtenberg wohnt, fühlt sich extrem als Ostberliner, als Roter. Er kriegt die Erfahrungen der Älteren mit, den Frust der Lehrer. Gerade die Geschichtslehrer hassen zum Teil, was sie erzählen müssen. Ich selbst habe auch, gerade in meiner letzten Zeit in Deutschland, versucht, zu beobachten, wo ich eigentlich herkomme und wieso ich so geworden bin.
Stefan Schomann: An Ihren Texten und überhaupt bei Ostdeutschen fällt ja ein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit auf. Es kommt oft spielerisch daher, dennoch scheint es mir fast eine Obsession zu sein. Ich wüsste bei Westlern dafür kein Pendant. Das gibt es eher bei Emigranten, diese fixe Idee der Identität, verbunden mit dem Wunsch, zu einem großen Wir zu gehören.
Alexander Osang: Na klar, ich komm ja aus dem Osten. Ich hab mich mit dem Thema identifiziert. Aber irgendwann ist das dann zerbrochen, und ich habe mich mehr und mehr zurückgenommen. Es war ja auch teilweise ein Missverständnis. Die Leute lasen meine Texte und hatten das Gefühl, sie sind wie ich. Sie fanden sich in mir wieder. Und jetzt gibt es Leser, die sagen: „Sei doch mal wieder so, wie du früher warst. Da warst du besser, da warst du mehr wie wir.“
Stefan Schomann: Sie kommen dem Osten einfach nicht aus. Wahrscheinlich kann man es schlecht vergleichen, aber ich schreibe so gut wie nie davon, dass ich aus Bayern komme.
Sabine Berking: Sie werden auch nicht ständig darauf angesprochen.
Alexander Osang: Ich werde oft gerade deshalb eingeladen, weil ich aus dem Osten komme und weil das interessant ist. Das hat immer diesen exotischen Aspekt. Wenn Merian beispielsweise bei mir als Ostler anfragt, ob ich etwas über die Geldstadt Zürich schreiben will. Umgekehrt registriere ich bei vielen Westdeutschen auch ein Bedürfniss nach kollektiver Identität, zum Beispiel in dem Buch über die Generation Golf oder in aktuellen deutschen Filmen, wo Kleidung, Wohnungseinrichtung und Atmosphäre der 80er eine große Rolle spielen. So etwas kannte ich vorher eigentlich nur aus dem Osten.
Sabine Berking: Auf Westpartys habe ich oft das Gefühl, die Leute sehen alle gleich aus. Sie sind alle gleich angezogen, bewegen sich gleich und reden über dieselben Themen. Wenn man nie aus seinem Umfeld herausgerissen wird, sondern damit alt wird, dann verändert sich nichts. Die ganzen 68er, die jetzt alle bald in Rente gehen – die beanspruchen immer noch, zu etwas zu gehören, das entstanden ist, als sie 25 waren. Da gab es keine Brüche. Im Osten hatte man dagegen nach der Wende plötzlich das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Das war eine Erschütterung. Solange die DDR existierte, habe ich sie merkwürdigerweise nie in Frage gestellt. Aber als sie zusammengebrochen war – dieser fortgeschriebene possenhafte Untergang, den wollte ich nicht mehr mitmachen. Es hat lange keiner von Neuanfang gesprochen, oft ging es nur um einen guten Abgang, um die beste Abfindung. Ich habe dann 1993 die erste Möglichkeit genutzt, um endlich wegzukommen, und bin fünf Jahre in Amerika geblieben.
Stefan Schomann: Ein Loyalitätsproblem hatten Sie nicht?
Sabine Berking: Überhaupt nicht. Im ersten Moment war ich dann aber auch enttäuscht von Amerika. Genauso wie von Westberlin, das viel kleiner, provinzieller war, als ich es mir vorgestellt hatte. Vom Ostberliner Fernsehturm sah Westberlin immer beeindruckender aus, als wenn man am Ku’damm herumgelaufen ist und die Leute irgendwelche Plastebecher in der Hand hielten.
Martin Hager: Während es für mich aus der bayerischen Perspektive der 80er Jahre den gewünschten Klischees voll entsprochen hat. Es war groß, die Kneipen hatten die ganze Nacht offen, und es gab Dönerkebab.
Stefan Schomann: Es war ein kleines Amerika. Eine Verheißung und die Chance auf Freiheit, auch wenn die in Wahrheit nur in der Anonymität der Großstadt bestand.
Martin Hager: Und – in seltenen Fällen – der Begegnung mit echten Westberlinern. Die wiederum heute besonders herablassend gegenüber den Ostlern sind, weil sie ihr schönes Inseldasein zerstört haben.
Alexander Osang: Meine letzte Berliner Reportage kam aus einer West-Laubenkolonie. Die haben die Ostler gehasst. Ich kann das verstehen. Es waren einfache Leute, und für die muss es ein großartiges Gefühl gewesen sein, rüberzukommen in den Osten und Geschenke mitzubringen. Viele Ostler haben sich dann nach der Wende nie wieder gemeldet.
Sabine Berking: Ich kann mich aber auch an meine Enttäuschung erinnern, als ich im November 89 zum ersten Mal in einem Aldi war und gemerkt habe, dass alles, was ich immer in diesen Paketen gesehen habe, der Kaffee, die Schokolade, von Aldi war. Und es waren ja nicht immer arme Leute, die diese Pakete verschickt haben. Für mich hat diese Erkenntnis die Pakete nachträglich entwertet. Die haben das billigste Zeug gekauft und verschickt.
Alexander Osang: Viel schlimmer war noch, dass wir mit diesen Alditüten herumgelaufen sind im Osten. Die haben die Plastiktüten auf die Pakete draufgelegt, und wir sind damit zur Schule gegangen, weil wir sie cool fanden.
Sabine Berking: Ich bin inzwischen drüber hinweg. Während sich manche Westler, die sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet haben, kategorisch weigern, bei Aldi einzukaufen. Dabei ist Aldi inzwischen ja durchaus salonfähig.
Martin Hager: Ich würde zum Schluss gerne noch einmal einen Blick nach Amerika werfen. Wie war oder ist denn die Einstellung der Amerikaner gegenüber den Ostlern?
Sabine Berking: Man ist der bessere Deutsche.
Alexander Osang: Der interessantere, der bessere eigentlich nicht. „Was hast du gemacht in der Nacht, als die Mauer fiel? Du musst ja so glücklich gewesen sein“, und all das. Dann kamen 1993 – als ich ein Stipendium an einer amerikanischen Universität hatte – Lichtenhagen und die Nazis. Das war natürlich Osten, das war Rostock. Nicht dass ich mit den Neonazis in einen Topf geworfen worden wäre, aber ich habe mich trotzdem in gewisser Weise getroffen gefühlt.
Sabine Berking: Was mich besonders erstaunt hat, war eine Reaktion, die gerade nichts mit der Unterscheidung in Ost und West zu tun hat, auf einem Spielplatz in Chicago. Ein junger Mann mit seinem Kind, ein Jude, hörte uns sprechen und fragte mich, welche Sprache das sei. Als ich sagte, es sei Deutsch, hat er sich sofort umgedreht, hat sein Kind genommen und ist gegangen. Ich war erschrocken und erbost. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass man mich damit in Verbindung bringen könnte.
Alexander Osang: Wir dachten immer, wir sind auf der guten Seite, die Antifaschisten. So was kann uns nicht passieren. Als ich aber jüdische Spitzenanwälte interviewt habe, zum Beispiel den Anwalt von Barbara Becker, waren die in zwei Zügen beim Holocaust, und dann sollst du die Top Ten der Deutschen KZs aufsagen. Damit kann ich immer noch nicht umgehen.
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