: Erziehung per Elektroschlag
„Im Winter trugen wir oft tagelang feuchte Lappen am Leib“, sagt eine Falun-Gong-Anhängerin, nachdem sie elf Monate in Lagerhaft verbracht hat
aus Peking GEORG BLUME
Es muss schnell gehen. Ein Treffen innerhalb von Stunden nach dem ersten Anruf, das ist Bedingung. Den Sektenanhängern, die täglich Meditation üben, soll keine Zeit zu Interview-Übungen bleiben.
Für Hong Tau*, Kontaktperson der buddhistisch-fundamentalistischen Falun-Gong-Sekte im chinesischen Untergrund, ist das nicht ungefährlich. Menschenrechtsorganisationen im Ausland, die der Sekte nicht nahe stehen, haben die Verbindung hergestellt. Doch die chinesische Polizei scheut derzeit keine Mühen, um Falun-Gong-Aktivitäten im Untergrund auf die Spur zu kommen. Deshalb gilt auch für Hong: Je schneller anberaumt, desto sicherer ist das Treffen. Er plant eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen: Zwei Mittler werden eingeschaltet. Dann wechselt man mehrmals das Taxi, bevor das Interview in einem fahrenden Kleinbus mit verdunkelten Fensterscheiben beginnt.
Zum ersten Mal können Anhänger der Falun-Gong-Sekte in China einem westlichen Journalisten von ihren Erlebnissen in einem chinesischen Umerziehungslager erzählen. Solche Berichte sind nach Auskunft der Menschenrechtsorganisationen „Human Rights in China“ und „Amnesty International“ bisher nicht ins Ausland gelangt. Grund dafür sei, dass die meisten inhaftierten Falun-Gong-Anhänger anderthalbjährige Strafen verbüßen und deshalb noch nicht aus dem Lager entlassen wurden.
Auf über 10.000 schätzen HRiC und Amnesty die Zahl der Falun-Gong-Anhänger in Umerziehungslagern. Die Sekte selbst spricht von über 60.000. Bis zu 170 Sektenanhänger sollen in Polizeihaft ums Leben gekommen sein. Neutrale Beobachter konnten sich bislang kein Bild von den Anschuldigungen machen, da diese von der Gegenseite her nicht überprüfbar sind. Westlichen Journalisten ist der Zugang zu Umerziehungslagern in China versperrt.
Drei Frauen sagen aus. Sie wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach dem offiziellen Verbot von Falun Gong im Juli 1999 in das „Frauenverwaltungsinstitut für Arbeit und Erziehung der Provinz Jilin“ eingewiesen. Dort verbrachten sie zwischen acht und dreizehn Monaten, bevor sie im Dezember vergangenen Jahres freikamen.
Verlierer der Reformpolitik
Die 50-jährige ehemalige Industriearbeiterin Li Huang – grünes Wollkleid, kurzer Haarschopf – wurde gefoltert, gleich nachdem sie auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking festgenommen worden war. Auf einer Station nahe dem Platz banden Polizisten die rundliche Dame mit beiden Händen an einen Balken, hängten sie auf und schlugen ihr Opfer, bis Li ihre nordchinesische Herkunft preisgab.
Die Mandschurin entspricht dem für Falun-Gong-Anhänger typischen Profil: weiblich, arbeitslos, Exkommunistin. Falun Gong behauptet, über 70 bis 100 Millionen Anhänger in China zu zählen. Die chinesische Regierung spricht dagegen von 2 Millionen Sektengläubigen. Sicher ist, dass das Zentrum der Bewegung in der nordchinesischen Mandschurei liegt. Hier leben die Verlierer der chinesichen Reformpolitik – keine andere Region musste in den letzten Jahren so unter der Umstellung auf die Marktwirtschaft leiden wie das unter Mao wichtigste Industriegebiet der Volksrepublik. Und hier, in der Rote-Fahnen-Straße der Provinzhauptstadt Changchun, nur wenige Fahrminuten vom Frauenverwaltungsinstitut entfernt, lebte auch der seit 1998 in den USA untergetauchte Sektenführer Li Hongzhi.
Li Huang folgt Lis Lehre seit Mitte der Neunzigerjahre. Für die Lektüre seiner Bücher und die vom Meister empfohlenen Kultivationsübungen gab sie die Pflege ihrer alten Eltern auf und kümmerte sich nicht mehr um Ehemann und Sohn. Dass diese nach ihrer Festnahme auch zu Verfolgten wurden, stört sie nicht. Denn für Li ist „das große Leben unseres Meisters die Wahrheit des Universums“. Nur wer nach seinem Vorbild lebe, werde perfekt.
So kannte Li kein Zögern, als der Meister zu Aktionen in Peking aufrief. Im April vor zwei Jahren hatte Falun Gong einen Massenprotest mit annäherend 10.000 Teilnehmern in der Nähe des Platz des Himmlischen Friedens in der Hauptstadt organisiert – es war der größte seit der Niederschlagung der Studentenbewegung 1989. Anlass gab die öffentliche Kritik eines Wissenschaftlers an Falun Gong. Erst aufgrund des überraschend erfolgreichen Protests wurde die Sekte verboten, die zuvor bis in hohe Parteikreise Unterstützer fand.
Seither liegt es an kleinen Gruppen von Gläubigen, mit spektakulären Aktionen auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Sekte zu lenken. Meister Li Hongzhi hat zu diesem Zweck Meditationen auf dem Platz eine besondere Wirkung zugesprochen. Li Huang hielt es ihrerseits für nötig, im Dezember 1999 mit einem Beschwerdebrief an den Volkskongress in Peking zu demonstrieren – noch nicht wissend, dass solcher Protest direkt ins Umerziehungslager führt.
Was sie dann erlebte, war für Li „die Hölle in der Welt“. Solange die Sektenanhänger ihren Glauben nicht widerrufen, vergeht kein Tag im Fraueninstitut, ohne dass sie geschlagen werden. Umerzieherinnen setzten Li mit Elektroschockstäben zu, andere Häftlinge, die nicht der Sekte angehörten, prügelten sie, weil sie ihr eigenes Strafmaß dadurch senken konnten. „Die Prostituierten, die zu unserer Aufsicht eingeteilt waren, holten mich in die Toilette und banden mich am offenen Fenster fest“, erzählt Li von Terrornächten im Lager. „Draußen herrschten 30 Grad minus. Ich trug nur Unterwäsche. Dann traten und schlugen die Aufseherinnen auf mich ein. Am nächsten Tag erzählten sie stolz, wie viele Hafttage ihnen erlassen worden seien.“ Tatsächlich bestätigen alle drei Frauen die Vorwürfe, die im Komitee der Vereinten Nationen für die Beilegung der Folter wiederholt erhoben und von Peking stets bestritten werden: dass in chinesischen Umerziehungslagern Gefangene systematisch zur Bestrafung anderer Gefangener eingesetzt werden.
„Wo ist das Beschwerdebüro?“
Bei Lis Ankunft im März 2000 gab es im Lager sechs Arbeitsbrigaden. Die Zahl der Gefangenen hatte sich bis dahin von einhundert im Oktober 1999 auf über tausend erhöht. Heute sollen sich annähernd 2.000 Gefangene, meist Falun-Gong-Anhänger, im Fraueninstitut befinden. Eingewiesen wird in der Regel nur, wer an Protesten in Peking teilgenommen hat.
Zhe Ping, eine 24-jährige Berufsschülerin, reiste schon im Herbst 1999 aus der Mandschurei nach Peking, um der Regierung zu sagen, dass ihr Meister ein wunderbarer Mensch und kein Lügner sei. „Wo ist hier das Beschwerdebüro?“, fragte Zhe die Polizisten auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Kurz darauf saß sie im Zug zurück nach Changchun, die Hände zusammengebunden, mit elf anderen Frauen. Zwanzig Stunden dauerte die Fahrt, „bis wir am Ende alle in unserem Urin saßen“.
Zhe, die inzwischen wieder lange, fließende Haare über einem glänzenden rosa Pullover trägt, erinnert sich noch gut an die Ankunft im Lager. Schon von weitem erkennbar begrüßte sie die Parole an der Gebäudefront: „An der richtigen Linie des Erziehens, Bewegens und Rettens festhalten!“ Von außen machte das Fraueninstitut auf Zhe den Eindruck eines Studentenheims. Tatsächlich unterscheidet sich der weiß verklinkerte, fünfstöckige Bau kaum von den nicht weit entfernten, zahlreichen Neubauten im Changchuner Universitätsviertel Heizuizi.
Doch drinnen geht es anders zu: Beim Umerziehungsunterricht liegt der Elektrostock auf dem Tisch. Falun-Gong-Anhänger müssen Texte vorlesen, die von den angeblichen Verbechen ihres Meisters handeln. Wie Li Hongzhi Menschen in den Selbstmord führt und wie Menschen sterben, wenn sie auf seinen Rat keine Medikamente mehr nehmen. Nach Auffassung der chinesischen Regierung hat Falun Gong bereits 1.660 Tote, darunter 239 Selbstmorde, auf dem Gewissen. Die Vorwürfe erscheinen nicht als reine Erfindung der Behörden. Journalisten der Staatsmedien sind ihnen in den letzten Wochen mit akribischen Recherchen nachgegangen und haben beeindruckende Dokumente vorgelegt, die von durch die Sekte gespaltenen Familien und in den Tod getriebenen Anhängern berichten.
Doch im Lager dienen diese Berichte nur dazu, Menschen zu quälen. Wer nach dem Unterricht angibt, am eigenen Glauben festzuhalten, muss in die Folterkammer im Zimmer nebenan. Zhe berichtet: „Mit dem Elektrostock suchen die Umerzieherinnen nach der sensibelsten Stelle des Häftlings. Das kann der Nacken, der Mund oder der säbelförmige Körperteil der Frau sein. An dieser Stelle lassen sie den Stock dann, bis eine Brandwunde entsteht.“ Die junge Frau musste die Qualen eine halbe Stunde ertragen. Andere verbrachten ein bis zwei Stunden unter der Folter.
Gefesselt und zwangsernährt
Höchststrafe im Lager ist das „Leichenbett“. Frauen, die dem Elektrostock standhalten, werden an ein Bett gefesselt, auf dem sie bewegunglos ruhen müssen. Zhe Ping und Li Huang wurde verboten, in das Zimmer zu schauen. Als eine Dozentin von der Rechtsuniversität in Peking achtzehn Tage lang auf dem Bett festgehalten wurde, traten die übrigen Sektenanhänger in Hungerstreik – was die Lage nur verschlimmerte. Der Juristin wurde die Strafe erhöht und den anderen die Nahrung in den Mund gedrückt – bis die Zähne brachen.
Wang Wuqing, eine 35-jährige ehemalige Verwaltungsangestellte, will die elf Monate Lagerhaft „mit einer leichten Erkältung“ durchgestanden haben. Das glaubt die energische Frau ihrem Meister zu verdanken, der seinen Schülern bei gewissenhafter Beachtung der richtigen Lehre übernatürliche Kräfte verspricht – und die Heilung von Krankheiten. Im Lager half das den wenigsten. Viele litten unter Hautkrankheiten – weil die Häftlinge nur alle zwei Wochen ihre Unterwäsche waschen durften und sie dann nass wieder anziehen mussten. „Im Winter trugen wir oft tagelang feuchte Lappen am Leib“, sagt Wang.
Ein Alltag wollte sich so nicht einstellen. Auch Arbeit wurde zur Folter. Gleich nach ihrer Ankunft entdeckte Wang einen Wandanschlag: „Jeden Tag acht Stunden arbeiten.“ Doch das Versprechen wurde nie eingehalten. Von vier Uhr morgens bis zehn Uhr abends währte der Arbeitstag – zwölf Frauen saßen in ihrer Zelle auf kaltem Beton und falteten Papiervögel, manchmal auch Drucksachen. Pro Tag gab es vier Unterbrechungen: dreimal fürs Essen und einmal fürs Waschen – zusammengerechnet 35 Minuten. An manchen Tagen wurde auch die Nacht durchgearbeitet. „Es war nicht zu ertragen“, gesteht Wang. „Und so ließen wir uns umerziehen.“
Doch ihren Glauben gaben die drei Frauen nicht auf. Li Huang schrieb gleich nach ihrer Entlassung einen Brief an das Institut, in dem sie ihre unter der Folter gemachten Widerrufe für nichtig erklärte. Dazu fühlte sie sich aufgrund des Wahrheitsgebots ihres Meisters verpflichtet – und muss nun wieder jeden Tag mit ihrer Festnahme rechnen. Wie Li verstecken sich auch Zhe und Wang vor ihren eigenen Angehörigen. Denn die wären verpflichtet, jede Meditation im Namen Li Hongzhis anzuzeigen.
Die Pekinger Regierung aber scheint entschlossen, die Verfolgung von Falun Gong fortzusetzen. „China ist ein Land mit einer langen Tradition feudalen Aberglaubens“, konstatiert der 75-jährige Physiker He Zuoxiu vom chinesischen Sektenbekämpfungsverein. He war jener Wissenschaftler, der Chinas neuen Glaubenskrieg im April 1999 mit seiner Kritik an Falun Gong anzettelte. Der Professor und Marxist sieht die Falun-Gong-Bewegung in der Tradition des Boxeraufstands vor 100 Jahren. „Wie die Schüler von Meister Li behaupteten auch die Boxer, Götter im eigenen Körper zu haben“, erklärt He. „Dass die Religionen in China schwach sind, bedeutet nicht, dass der Aberglaube schwach ist.“
Mit seiner Sektenkritik hat He das offene Ohr einer Parteiführung gefunden, der eine eigene ideologische Linie fehlt. Umso rabiater schlägt sie nun zurück. „Bei der Verfolgung von Falun Gong spielen Gesetze keine Rolle mehr“, sagt Sophia Woodman von HRiC in Hongkong. Man behandele die Sekte inzwischen so, wie Mao früher mit seinen Feinden umging – ohne Rücksicht auf die Regeln der Gesellschaft.
* Die Namen aller Falun-Gong-Anhänger sind geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen