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standbildSex und Saufen für das Vergessen

Die Baracke

(Di. 22.25 Uhr, 3sat)

Sie sind vom Leben gezeichnet, und wollen nur eines: ihre Vergangenheit vergessen. 1953, kurz nach Stalins Tod, versammelt sich in einem kleinen Ort südlich des Urals eine wild zusammengewürfelte Gemeinschaft in einer Baracke. Was in dieser Baracke vor sich geht, schildert der russische Regisseur Valerij Ogorodnikov mit Hintersinn. Die Menschen sind einsam – jeder ganz für sich allein mit seiner Geschichte, in der er Schuld auf sich geladen und Leid erlebt hat. Sie müssen sich mit ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen zusammenraufen. Das Interessante an diesem Drama: Die Charaktere der Filmfiguren sind eigenwillig, sind keine Puzzleteile eines großen Ganzen, lassen sich nicht in Konventionen einbinden. Sie leben mit ihren Verletzungen. Und sie versuchen sich in der zusammenbrechenden Stalin-Ära gegenseitig Halt und Orientierung zu geben. Da ist etwa der jüdische Fotograf Jora. Dieser ewig über Kunst philosophierende Intellektuelle hat zwar im Krieg ein Bein verloren, verfügt aber über ein reges Sexualleben. Da ist Guerka, alkoholsüchtig und verschroben, ein früherer Nazikollaborateur, der unentwegt Streit mit Friedrich, dem ehemaligen deutschen Soldaten, sucht. Und dann Olga, die die Belagerung Leningrads als Einzige in ihrer Familie überlebt hat und vom galanten Miliz-Angehörigen Aleksej umworben wird. Jede dieser Figuren durchlebt die eigene Hölle. Und doch ist Ogorodnikovs Film kein melancholisches Werk. Im Gegenteil, es wird leidenschaftlich gelacht, gestritten, geliebt, Sex gemacht, abgetrieben. Pornohefte werden produziert und Schnaps gebrannt – illegal und lustvoll, in eigener Regie. Auf staatlichen Terror und Krieg folgt fröhlicher Anarchismus. Dass dies nicht ohne Brüche funktioniert, macht der Film unmissverständlich klar. Während die anderen mal feiern, mal Rotz und Wasser heulen, geht Guerka seiner Lieblingsbeschäftigung nach: provoziert den steifen Deutschen Friedrich. Bis dieser mit dem Messer zusticht. An Guerkas Leiche tanzt später eine ausgelassene Gesellschaft vorbei. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Die Vergangenheit lässt sich nicht verdrängen. GITTA DÜPERTHAL

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