: Patina entfernen
Die künftige Kampnagel-Leiterin Gordana Vnuk sucht den Zustand „vor den Codes“ ■ Von Petra Schellen
Gordana Vnuk kennt genau die Grenzen. Markiert säuberlich, Satz für Satz, die Trennungslinie zwischen archaischem Ritual und modernem experimentellem Theater. Aber genau indem sie sich abgrenzt gegen den Verdacht des Exotismus, radiert sie sie klammheimlich wieder aus, die schmale Linie, die sie vorher so akkurat gezogen hat. Denn in Wirklichkeit schätzt die aus Kroatien stammende künftige Kampnagel-Leiterin sehr wohl regionale Besonderheiten in der Kunst und ist überzeugt, dass landschaftlicher Kontext die Formen des Theaters beeinflussen kann. Und dass es fruchtbar sein kann, Ibsens Puppenheim mit Brechts Baal zu verklammern, wie sie es im norwegischen Bergen tat.
Fremdartig Kombiniertes wird die studierte Anglistin mit Kulturpolitik-Diplom auf Kampnagel anbieten, vielleicht – aber Details verrät sie erst nächste Woche – die Fortführung künstlerischer Vorlieben, die sie im Laufe diverser von ihr geleiteter Festivals – der Young People's Theatre Days in Zagreb und Dubrovnik, des Jugendtheaterfestivals Dubrovnik sowie als Dramaturgin in Skopje, Ljubljana und Tashkent entwickelte.
Den alten Ost-West-Gegensatz betrachtet sie als überholt – jedenfalls für die Generation der jetzt 20- bis 30-Jährigen: „Die so genannten Osteuropäer dieser Generation haben ihre Sozialisation nicht mehr in totalitären Systemen erfahren, die ihre eigenen Symbole schufen.“ Überhaupt habe sich die jugoslawische Kunst nie als osteuropäisch begriffen – und Gordana Vnuk, die 1987 das renommierte Tanz- und Theaterfestival Eurokaz gründete, überhört die Frage, warum die Orientierung am Westen denn ein so wichtiger Kompass gewesen sei.
Karge und pathetische Formen hat Gordana Vnuk kombiniert, um den berühmten Hiatus, das vom Zuschauer zu füllende Bedeutungsleck zu schaffen, mit dem auch der aus Nigeria stammende Okwui Enwezor, Chef der documenta 11, operiert. Kunst aus New York mit der der Aborigines zu konfrontieren, findet sie aufregend, und den Betrachter durch die Tunnel Fremdheit und Angst zu jagen, damit er mal wieder selber denkt und wahrnimmt. Zurückfinden will sie zum Zustand „vor den Codes“, der sie künstlerisch am stärksten inte-ressiert: „Das europäische experimentelle Theater ist in eine Sackgasse geraten“, erkärt sie. „Die meisten aktuell gespielten Stücke handeln von individuellen Befindlichkeiten, fast kann man sagen von Hysterien Einzelner.“ Dabei gibt es – „Kontextualisierung“ lautet die Devise – viel zu entdecken in der nicht-westeuropäischen Restwelt: Warum nicht Synergien zwischen traditionellen Tänzen und Rap herstellen; warum nicht die – szene-intern – ihrerseits zum mainstrem geronnenen Codes auflösen und dem experimentellen Theater die Aura des Unantastbaren nehmen?
Die noch frische Patina selbst anzutasten kommt Vnuk dabei nicht in den Sinn: Inhalte und Formen verschiedener Regionen und Ären miteinander kommunizieren zu lassen, ist ihr Ziel. „Am fruchtbarsten ist die künstlerische Produktion oft an der Peripherie, wo sich Neues unbeeinflusst von künstlerischen Autoritäten entwickeln kann“, betont Vnuk. In der kroatischen Hafenstadt Sibenik gebe es zum Beispiel eine offiziell der Renaissance zugeordnete Kathedrale mit einem besonderen Dach, die so in Florenz nicht hätte entstehen können, weil sie dem damaligen offiziellen Formenkanon nicht entsprach. „Im ebenfalls kroatischen Nin existiert eine extrem asymmetrisch angelegte romanische Kirche – ein aus westlicher Sicht ebenfalls schweres Sakrileg. Dabei sind die unregelmäßigen Formen exakt auf das Zusammenspiel von Landschaft und Sonneneinfallswinkel ausgerichtet, so dass sie wie eine Sonnenuhr funktionieren.“ Auch vor diesem respektlos-unbekümmerten Spiel mit Formen habe die Wissenschaft ratlos gestanden.
Und wenn Gordana Vnuk, von 1996 bis 1999 Chefin des Theaterprogramms am Chapter Arts Centre in Cardiff, auch leugnet, dass sie durch Konfrontation disparater Formen zum interkulturellen Verständnis beitragen wolle: Latent schimmert schon der Wunsch durch, den – so formuliert es der estnische Lyriker Ivar Ivask – „trüben Tümpel urbanen Aberglaubens“ zu unterlaufen. Oder nicht? Möchte sie nur nebeneinanderstellen, was zeitgleich auf dieser Welt existiert? En passant deutlich machen, dass die Aborigines genauso modern denken wie die Europäer? Hofft sie einen archetypischen gemeinsamen Pool von Menschheitsideen zu finden?
Sagt sie nicht, will sie noch nicht drüber reden. Vorläufig will sie nur, dass sich unterschiedliche Theaterformen befruchten. Und sie will sich – wie der irische Lyriker Seamus Heaney – exzessiv „zwischen dem Hammer und dem Block ... der Musik stellen.“ Und diesem sagenhaften Flirren lauschen, das kurz vor der Explosion eintritt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen