piwik no script img

Die kostbare Zeit im Sandkasten

Vom Selbstverständlichen im Umgang mit Menschen (Teil IV): Der Zwang zur Gruppenaktivität und weitere Verhängnisse

■ Niemand will Behinderten Böses. Aber wie ist es in unserer Gesellschaft wirklich bestellt um den sach-gerechten Umgang mit Menschen, die Versorgung brauchen? Dieser Frage geht diese Serie nach. Sie handelt – durchaus streitbar – von der pflegerischen Kompetenz jenseits von Pädagogik und Integrationswut

von PETER FUCHS

In einem Wohnheim arbeitet ein Betreuer, vielleicht fünfzig Jahre alt, ein verheirateter Mann und guter Vater. Er strengt sich sehr an, den Behinderten seiner Wohngruppe die Angst zu nehmen. Sie haben nämlich vor vielerlei Angst, vor allem, was neu ist, woran sie sich noch nicht haben gewöhnen können. Schwimmen zum Beispiel, oder Pferde, fremde große Räume, Ansammlungen von Menschen. So nett unser Betreuer ist, er hat aber auch (als ein männlicher Mann) eine sehr klare Regel: Gegen die Angst hilft der Sprung ins kalte Wasser. Man muss diejenigen, die sich nicht trauen, schubsen. Schließlich gilt gerade für unsere schwer geistig behinderten Mitmenschen, dass man sie zu ihrem Glück zwingen muss. Wenigstens ein bisschen!

Stolz des Wohnheims ist, dass man jetzt über einen Swimmingpool für Behinderte verfügt, ein technisch tolles Ding, mit absenkbarem Boden, dazu subtropisch badewarmes Wasser. Manche der Wohnheimbewohner haben schon einmal Erfahrungen in Schwimmbädern gesammelt, manche allerdings noch nie. Wie kriegt man die dann in diese neue komfortable Errungenschaft? Ist es doch schon schwierig, sie überhaupt in die Räume des Bades zu bekommen! Sie stellen sich an wie die sturen Esel. Wenn man sie an der Hand zieht, kräftig zieht, dann kann man das Zittern und die Anspannung der Muskulatur spüren. Aber das Bad muss genutzt werden, also wird geschoben, gezogen, gelockt, gedroht. Schließlich hat man sie alle im Umkleideraum. „Wasser!?“, fragt die geistig behinderte blinde Frau. „Ja, feines Wasser!“, sagt der Betreuer. „Wasser?!“, fragt die blinde Frau. „Ja ja ... feiiines Wassser ...“, sagt der genervte Betreuer. „Wasser?!“, fragt die blinde Frau ...

Tatsächlich sind am Ende alle irgendwie in die Badekleidung gekommen. Für die Wasserspiele selbst bleibt kaum noch Zeit. Der Betreuer und die Betreuerinnen schwitzen, sie sind fix und alle. Entsprechend ist die Stimmung bei allen Beteiligten. Beim nächsten Elternmeeting wird man aber darüber berichten können, wie gut das Baden bei den Behinderten angenommen wurde. Es wird selten Eltern geben, die fragen, wie lange dieser pädagogische Gewaltakt gedauert hat und ob er überhaupt vorbereitet wurde. (Es gibt eine Hauptregel zur Angst, die kurz ist. Sie heißt einfach: Gegen Angst gibt es kein Argument. Man kann Angst nicht wegbefehlen. Wer Angst hat, hat alle Argumente auf seiner Seite. Wenn Angst überwunden werden soll, wird Zeit und Geduld gebraucht. Jeder Handstreich verstärkt die Angst. Selbst verhaltenstherapeutische Angstbekämpfung arbeitet in kleinen Schritten. Jeder Zwang in Angstfällen ist streng kontraindiziert. Da jeder Mensch entsetzliche Angst vor irgend etwas hat, kann jeder Mensch [also auch ein Betreuer] leicht erproben, wie es ist, wenn man ihn zwingt, zu erleben, wovor er Angst hat.)

Ich glaube, das Prinzip der Privatregeln ist leicht zu verstehen. Deswegen nur noch ein sehr typisches Beispiel: Ich nenne es für mich selbst das Faulheitsbeispiel.

Behinderte Kinder sind häufig in Sonderkindergärten. Die Regel ist: Kinder sind muntere Wesen, deswegen müssen sie regelmäßig ruhen. Auch behinderte Kinder sind muntere Wesen, also müssen auch sie regelmäßig ruhen. Am besten über Mittag. So beobachtet man immer wieder, dass nach dem Mittagessen Klappliegen aufgestellt, Decken hervorgekramt, Kuscheltiere gesucht und Kinder hingelegt werden, ob sie wollen oder nicht. Wat mutt, dat mutt! Und wenn ein Kind überhaupt nicht zur Ruhe zu bringen ist, dann kommt es in einen Extraraum. Dort passt der Zivildienstleistende auf oder die Praktikantin.

Wo sind die hauptamtlichen BetreuerInnen? Sie machen derweil eine Dienstbesprechung. Was tun sie wirklich? Sie trinken Kaffee. Aufatmend, durchatmend und manchmal sehr lange, ehe der nervenaufreibende Job fortgesetzt werden muss. Tatsächlich schlafen manche Kinder, überhitzt unter einer Decke, die sie selbst nicht verschieben können, oder abgekühlt, weil sie die Decke nicht selbst wieder über sich ziehen können. Hin und wieder kommt der Zivi, die Praktikantin durch. Alles in Ordnung. Und die Regel ist bestätigt, wenn einige Kinder wirklich schlafen.

Einige liegen ziemlich stumm in der Gegend herum und schauen die Decke an. Sie langweilen sich, dennoch dürfen oder können sie nicht von der Liege herunter. Aber sie könnten doch spielen oder lesen oder wenigstens Musik hören? Leider sind die meisten schwer behindert, und Musik würde die anderen wecken. Ruhe also, Silentium, auf Teufel komm raus.

Man tröste sich, nach dem Kaffeetrinken wird es anders. Dann geht man nach draußen. Kinder brauchen frische Luft, sie brauchen Bewegung, sie brauchen Sand. Also ab in den Sand, an die Wasserrinne, in die Schaukel. Da sitzen sie jetzt oder liegen im Sand, an der Wasserrinne, in der Schaukel. Einige werden auf Rädchen gesetzt, von denen man so leicht nicht runterfallen kann.

Alles kommt natürlich darauf an, dass man jetzt etwas mit den Kindern tut, die Schaukel schaukelt, die Wasserrinne rinnen lässt, die Hände des Kindes in den Sand führt, das Rädchen schiebt. Aber leider auch hier: Wenig geschieht. Die BetreuerInnen sitzen auf Bänken, die um den Spielplatz verteilt sind, und gucken zu und unterhalten sich oder bräunen ihre Beine und rauchen und warten, bis die Zeit (diese so kostbare Zeit) vergangen ist. Bald kommen die Busse. (Es gibt eine Hauptregel zur Nichtfaulheit. Und auch diese Regel ist einfach: Die Zeit schwer behinderter Kinder ist über alle Maßen kostbar. Sie kann nicht ohne weiteres von ihnen selbst ausgefüllt werden. Die Aufgabe professioneller BetreuerInnen ist eben diese: Fülle die Zeit der Kinder sinnvoll! Du wirst dich dann [das ist die Belohnung] selbst nicht langweilen. Tipp: Man gehe mit dem Wort „Freispiel“ behutsam um. Es ist oft der Vorwand für bezahlte Freizeit betreuender Personen.)

Halten wir fest, dass es unabhängig von meinen Beispielen (denn andere lassen sich überall finden) darauf ankommt, mit Privatregeln locker umzugehen. Sie stimmen manchmal, aber sehr oft stimmen sie nicht. Sie sind nicht selten das Ergebnis der eigenen Erziehung der Betreuenden, internalisierte, schwer bekämpfbare Urteile darüber, wie etwas zu sein hat, wie jemand sich zu benehmen hat. Sich davon frei zu machen, wäre auch nicht von Übel für die davon infizierten Personen. Sie würden Raum für Humor gewinnen. Das wäre ein Hauptgewinn für alle Menschen, die sich in Abhängigkeitslagen betreuen lassen müssen. Und schließlich: Selbst bei strengem Umgang mit sich selbst bleiben immer noch genug Privatregeln übrig, mit denen sich ein Korsett gegen die Unbilden des Lebens aufrechterhalten lässt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen