: Türkische Kids wollen Doppelpass
Eine Studie der Freien Universität zeigt, dass die Integrationsbereitschaft türkischer Jugendlicher steigt, je mehr Deutsche in der Schulklasse sind. Ethnische Herkunft spielt bei Auswahl der Freunde keine Rolle. Die Wissenschaftler fordern gemischte Klassen
von DANIEL FERSCH
Mehr als die Hälfte der türkischstämmigen Schüler in Berlin wollen die doppelte Staatsbürgerschaft annehmen. Dies ist das Ergebnis einer Studie über das Zusammenleben von türkischen und deutschen Jugendlichen. Durchgeführt wurde sie vom Institut für Erziehungswissenschaft an der Freien Universität (FU). Die Finanzierung dafür hatte die Volkswagenstiftung übernommen.
Bei der gestrigen Vorstellung des Abschlussberichts betonte Hans Merkens, Autor der Studie, die Integrationsbereitschaft der Jungen und Mädchen sei vor allem dann sehr hoch, wenn sie in gemischten Klassen mit deutschen Schülern lernen.
In das Projekt wurden 1999 etwa 300 Jugendliche an Berliner Haupt-, Real- und Gesamtschulen sowie an Gymnasien einbezogen. Im vergangenen Jahr wurde die Befragung der 14- bis 16-Jährigen wiederholt. Die Untersuchung beschränkte sich auf Schulen in Bezirken mit großem türkischstämmigem Bevölkerungsanteil wie Kreuzberg, Neukölln oder Wedding.
Die Befragung kommt zu dem Ergebnis, dass „Durchmischung“ die Kontakte zwischen den Schülern unterschiedlicher Herkunft fördert. Die meisten Jugendlichen seien sowohl mit Deutschen als auch mit Türken befreundet. Bei der Auswahl der Freunde sei die ethnische Herkunft nicht entscheidend, berichtete Merkens. Zudem seien in gemischten Klassen ausländerfeindliche Tendenzen unter den deutschen Jugendlichen nur in geringem Maß verbreitet.
Als Fazit forderte der Wissenschaftler die verstärkte Einrichtung von gemischten Klassen in der Haupstadt. Damit erteilte er der Forderung nach der Wiedereinführung von reinen „Ausländerklassen“ eine deutliche Absage. Um den Ausländeranteil in Schulklassen zu erhöhen, hält Merkens die Einführung eines so genannten Busing-Systems für sinnvoll. Dies bedeutet, dass Schüler türkischer Herkunft von ausländerreichen Schulen mit Schulbussen an weiter entfernte Schulen mit geringem Anteil türkischer Kinder und Jugendlicher verlegt werden.
Diese Anregung stößt jedoch nicht bei allen Bildungspolitikern auf Gegenliebe. So spricht sich der Grünen-Abgeordnete Özcan Mutlu vehement gegen das „Busing“ aus. Es sei bereits Realität, dass dieses System in umgekehrter Richtung praktiziert wird. Viele deutsche Eltern würden ihre Kinder schon jetzt statt auf wohnungsnahe Schulen mit hohem Ausländeranteil in andere Bezirke zum Lernen schicken. Mutlu forderte stattdessen eine bessere Austattung der Bildungseinrichtungen sowie die Einführung von Ganztagsschulen. „Die Schule muss so gut sein,“ sagte Mutlu, „dass sowohl türkische als auch deutsche Eltern ihre Kinder gerne hinschicken.“
Über die Ergebnisse der Studie zeigte sich Mutlu ansonsten erfreut. Sie bestätige die lange gehegt Annahme, dass in gemischten Klassen ein besserer Austausch zwischen den Schülergruppen stattfindet. „In diesen Klassen entwickelt sich auch viel weniger braunes Gedankengut“, so Mutlu.
In der FU-Studie finden sich außerdem Erkenntnisse über das Selbstverständnis von türkischen Jugendlichen. Die Mehrheit lege zwar großen Wert auf ihre Identität als Türke oder Tükin. Diese Einstellung habe aber keinen Einfluss auf den Integrationswillen der Jungen und Mädchen. Gerade diejenigen, die kaum deutsche Freunde haben, zeigten großes Interesse daran, deutsche Schüler kennen zu lernen. Auch der Wunsch nach einem „Doppelpass“ sei bei dieser Gruppe nicht geringer.
Der Integrationswille der befragten Jugendlichen, so Merkens, sei auch durch die gewünschten Bildungsziele zu belegen. Nur 10 Prozent hielten einen erweiterten Hauptschulabschluss für erstrebenswert, 44 Prozent wünschten sich dagegen als Abschluss das Abitur. Der besuchte Schultyp sei aber nicht ausschlaggebend für den Grad des Intergrationswillens, betonte Merkens. „Es ist nicht so, dass die Gymnasiasten alle assimilationswillig sind und die Jugendlichen auf der Hauptschule alle segregationswillig.“
Viele türkische Jugendliche gaben bei der Befragung an, sie sprächen besser Deutsch als Türkisch. Die Wissenschaftler fanden auch heraus, dass die Sprachkenntnisse weniger entscheidend bei der Ausbildung einer türkischen Identität sind als andere Faktoren. Entscheidend dafür sei vielmehr die religiöse Einstellung der Eltern. Je strenger die Eltern in Bezug auf die Religiosität seien, desto mehr seien die Kinder in eine separierte türkische Gemeinschaft einbezogen, schreibt Merkens.
Der Erziehungswissenschaftler und sein Team aus Studenten zeigten sich von den Ergebnissen der Studie überrascht: „Alle Annahmen, die wir vorher hatten, haben sich nicht bewahrheitet.“ Die deutschen und türkischen Jugendlichen seien einander viel ähnlicher, als die Forschungsgruppe angenommen habe. „Wir haben erstaunt festgestellt“, so Merkens abschließend, „dass sich deutsche und türkische Freunde durch nichts unterscheiden.“
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