: Umgerubelt und im Chaos verloren gegangen
Seit 1993 entschädigt Deutschland ehemalige NS-Zwangsarbeiter in Russland. Die zuständige Stiftung SVV hat 80 Millionen Mark versickern lassen
MOSKAU taz ■ „In meinem Bezirk starben im letzten Jahr 200 Rentner, die einen Anspruch auf Entschädigung gehabt hätten“, erzählt der Duma-Abgeordnete Jewgeni Selenow. 400 Millionen Mark stellte die Bundesregierung 1993 als eine erste bescheidene Geste der Wiedergutmachung für exsowjetische Zwangsarbeiter zur Verfügung – acht Jahren später haben noch immer nicht alle „Ostarbeiter“ aus diesem Topf ihr Geld erhalten. Die Zeit drängt. Von den betroffenen ehemaligen 380.000 Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen im Alter zwischen 70 und 80 Jahren sterben in Russland und der GUS täglich 200.
Für die Stiftung Versöhnung und Verständigung (SVV), die das Geld in Russland verteilt, ist das indes kein Grund, die Zahlungen zu beschleunigen. Als der rührige Parlamentarier Selenow aus Nowgorod im vergangenen Herbst die Verteilungspraxis der Stifter von einer parlamentarischen Untersuchungskommission genauer unter die Lupe nehmen lassen wollte, stieß er bei seinen Kollegen auf Ablehnung.
Indes steht den ehemaligen russischen Zwangsarbeitern ein noch größerer Betrug ins Haus. 835 Millionen Mark aus Mitteln der deutschen Wirtschaft und der Bundesregierung könnten sofort überwiesen werden, nachdem US-Gerichte kürzlich den Streit gegen deutsche Unternehmen um Rechtssicherheit vor weiteren Klagen geklärt haben. KZ-Insassen würden 15.000 Mark erhalten, Zwangsarbeiter 5.000 Mark Entschädigung. Der Geldsegen raubt Moskaus Bürokraten derzeit den Schlaf. Denn nach landesüblichem Brauch hätte ausgesorgt, wer über die Verteilung dieses Geldes verfügt. An die 80 Millionen Mark versickerten aus der ersten Tranche der Wiedergutmachungsleistungen. Von 370.000 potenziellen Empfängern erhielten 305.000 aus den zwischen 1993 und 1995 gezahlten 400 Millionen Mark im Schnitt 1.200 Mark Entschädigung. Auf die zweite Rate warten noch immer 68.000 Opfer, und rund 31.000 Anträge liegen unbearbeitet auf Halde. Letztes Jahr deckte der russische Rechnungshof erstmals den Verlust von 80 Millionen Mark auf.
Eine unrühmliche Rolle spielten dabei die von der Stiftung mit der Auszahlung beauftragten Banken, denen dieser Auftrag ohne Ausschreibung und Bonitätsprüfung zugeschanzt worden war. Unter ihnen waren die Twer-Universalbank, die Rosdombank und das Geldinstitut Junibest. Bei der Twer-Universalbank deponierte die Stiftung 244 Millionen Mark auf einem Festgeldkonto. Im Juli 1996 wären zehn Millionen Mark Zinsen fällig gewesen, die die Bank jedoch nicht zahlte. Stattdessen erhielt die Stiftung 1998 Wertpapiere in Höhe von 228 Millionen Rubel und verlor dadurch 42 Millionen Mark – Mittel, die für mindestens 35.000 Zwangsarbeiter gereicht hätten.
Zunächst wandte sich die Stiftung daraufhin an ein Schiedsgericht, zog ihre Klage aber zurück, als sich herausstellte, dass sie selbst vorher einem Verlustgeschäft zugestimmt hatte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun gegen den inzwischen entlassenen SVV-Vorstandschef Wiktor Knjasew, dem aber nicht Betrug, sondern nur „Überschreitung der Vollmachten“ vorgeworfen wird: Er habe über zweistellige Millionenbeträge verfügt, als sei es seine Portokasse gewesen.
Vorwürfe gegen die Twer-Universalbank erhob auch Otto Graf Lambsdorff letztes Jahr. Er bilanzierte ein Minus von elf Millionen Mark, das die Bank mit dem Handel von Wertpapieren in der Finanzkrise 1998 eingefahren hatte. Diesen Verlust legten die Banker auf die ehemaligen Ostarbeiter um: Nach der Geldentwertung zahlten sie den ehemaligen Zwangsarbeitern statt zwölf Rubel weiterhin drei Rubel pro Mark.
Bei der Rosdombank hatte die Stiftung mehrere Millionen Mark hinterlegt, kurz bevor das Institut sich für zahlungsunfähig erklärte. Obwohl offiziell bankrott, vergab die Bank, wie Rechnungsprüfer verblüfft feststellten, zwei Monate später aber noch einen Kredit an die SVV.
Überdies suchten Wirtschaftsprüfer in den Büchern der Bankhäuser vergeblich nach Überweisungsbelegen für die Entschädigungszahlungen. Nicht ein Hinweis fand sich. Wer in dem bodenlosen Chaos trotz allem etwas erhalten hat, lässt sich nicht mehr nachweisen.
Kein Wunder, dass der Posten des SVV-Vorstandsvorsitzenden heiß begehrt ist. Bankdirektoren und Vizeminister haben sich beworben, meint Ludmila Narussowa, Frau des verstorbenen Petersburger Bürgermeisters und Putin-Freundes Anatoli Sobtschak, die vom russischen Präsidenten mit der Aufgabe betraut worden ist, die Arbeit der Stiftung zu kontrollieren.
Das Rennen machte eine andere Petersburger Vertraute Präsident Putins: Die 49-jährige Natalja Malyschewa. Sie muss inzwischen mehr leisten als nur das angeschlagene Image der Stiftung aufzupolieren, glaubt Narussowa. Die Sache hätte politischen Charakter angenommen. Die Frage sei: „Kann man mit Russen überhaupt noch zusammenarbeiten oder stehlen sie einfach alles, sogar das Geld von ehemaligen KZ-Häftlingen?“
Um weiteren Missbrauch zu verhindern, hat die deutsche Seite Sicherungen eingebaut. So werden Wirtschaftsprüfer die SVV-Haushaltsführung kontrollieren. Und nur noch die russische Sparkasse Sberbank soll die Abwicklung übernehmen. Und das deutsche Geld wird nicht auf einen Schlag, sondern in Raten überwiesen.
Sparkasse, russische Stiftung und Bundesstiftung konnten sich aber bisher nicht auf die Modalitäten dieser Neuregelung einigen. Der SVV sind die Gebühren der Sberbank – 0,7 Prozent, das macht 5,8 Millionen Mark – zu hoch. Außerdem verlangt die Bank, dass das Geld ihr direkt überwiesen wird statt auf ein Stiftungskonto.
KLAUS-HELGE DONATH
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