Der Schritt vom Propheten zum Apostel

Die messianische Zeit, der Ausnahmezustand und die Gegenwart: Der Philosoph Giorgio Agamben stellte in Frankfurt seine Neulektüre von Paulus’ Römerbrief vor

Man weiß nicht viel über das Leben von Giorgio Agamben. 1942 in Rom geboren, Jurastudium ebenda, nach dem Abschluss philosophische Seminare bei Martin Heidegger, und zwar 1966 und 1968 unter den besonnten Olivenbäumen Südfrankreichs. Jetzt, da er Philosophieprofessor ist, lebt er in Venedig und lehrt in Verona. Das schönste der auffindbaren biografischen Details ist aber dies: Während seiner Studienzeit wirkte Agamben in Pasolinis Film „Das erste Evangelium nach Matthäus“ mit, er spielte Philippus, den jüngsten der zwölf Apostel. Ein ernsthafter Mann mit vollem, dunklem Haarschopf blickt einem da entgegen.

Verglichen mit diesen Bildern wirkt Agamben heute fast jungenhaft. Ein graziler Herr, der charmant mit seinem Publikum diskutiert. In das alte Hauptgebäude der Frankfurter Uni sind vorgestern Abend vielleicht neunzig ZuhörerInnen gekommen, um seinen Auftritt zu verfolgen. Die Atmosphäre: extrem konzentriert. Agamben zu sehen ist ein Ereignis, denn auf den Umschlagplätzen des Theoriemarktes – Konferenzen, Podien, Buchmessen – macht er sich rar. Dabei wird er in Amerika und Frankreich als Star gehandelt (vgl. taz vom 19. 6.). In Frankfurt sprach Agamben über „Die Struktur der messianischen Zeit“, einen Aspekt aus seinem jüngstem Buch „Il tempo che resta“ (Die Zeit, die bleibt), das Paulus' Brief an die Römer einer grundlegenden Neulektüre unterzieht.

Paulus, der dreizehnte Apostel, erlebt in der politischen Philosophie seit einiger Zeit eine Renaissance. Es war Jacob Taubes, der Paulus der Deutungshoheit der Theologie entriss. In einer Art philosophischem Testament interpretierte er den Römerbrief als politische Kampfansage an den Herrscher des römischen Weltreiches. Das war 1987, und zehn Jahre später veröffentlichte der französische Philosoph Alain Badiou einen pointierten Essay, der aus Paulus die Gründerfigur eines militanten politischen Universalismus macht, eine Art Lenin des Christentums, einsatzfähig im Kampf gegen den „Kapitalo-Parlamentarismus“.

Agamben und Badiou (dessen so gehaltvolles Werk in Deutschland noch kaum zur Kenntnis genommen wurde) lehnen es beide ab, das politische Denken auf die bloße Kommentierung real existierender Verfahrensregeln zu reduzieren; ebenso teilen sie, um das Mindeste zu sagen, einen kulturkritischen Blick auf die Gegenwart. Dennoch könnten ihre Paulus-Lektüren nicht unterschiedlicher ausfallen. Badiou hält die eine „Wahrheit“ des Paulus fest – „Jesus ist auferstanden“ –, während Agamben verschiedene paulinische Paradoxien schärft. Das beginnt schon mit der ideengeschichtlichen Zuordnung: Wie vor ihm Taubes, so stellt auch Agamben Paulus in die Tradition des jüdischen Messianismus – ausgerechnet jenen biblischen Autor, der wie kein anderer mit der Institutionalisierung der christlichen Kirche ebenso wie mit deren Antijudaismus verbunden ist.

Agambens Vortrag steigt direkt in das Thema ein, mit einer vermeintlichen Schlichtheit, die an Understatement grenzt: Er liest den ersten Vers des Textes, in dem sich Paulus der römischen Gemeinde als Apostel vorstellt. Er hätte auch als Prophet auftreten können, fügt Agamben hinzu, als ein Wahrsprecher, der sich durch sein privilegiertes Verhältnis zur Zukunft auszeichnet. Er hätte – tatsächlich aber wählt Paulus ein anderes Verhältnis zur Zeit: Als Apostel spricht er dann, wenn der Messias schon da ist – in der „Jetztzeit“, wie Agamben mit Walter Benjamin formuliert.

Diese „messianische Zeit“ unterscheidet Agamben strikt von jeder Eschatologie, von jeder Apokalyptik, von all jenen christlichen Vorstellungen, die die Zeit mehr oder weniger schnell auf ihr Ende zurasen sehen. Nicht dass die Möglichkeit eines solchen Endes zu bestreiten wäre. Eher müsste man sagen: Das Ende ist bereits da. Auch hier hallt das Echo Benjamins nach, seine These nämlich, derzufolge der „Ausnahmezustand“, in dem wir leben, die Regel ist. Von daher ist Agambens entscheidende Wendung zu verstehen, die er so zusammenfasst: Die messianische Zeit betrifft „nicht das Ende der Zeit, sondern die Zeit des Endes“. Nicht nur ist so jede Zielgerichtetheit der Geschichte hinfällig, sondern das messianische Ereignis suspendiert die Linearität von Zeit überhaupt. Oder anders: Der Zeitstrahl, den Agamben in Frankfurt rot an die Tafel malte, wurde, nach der Markierung des messianischen Ereignisses, zur Strichellinie.

Die genauere Beschaffenheit der messianischen Zeit hängt vom Ereignis ab, das ihr vorausgeht. Dieses sieht Paulus, so Agamben, sowohl in der (vergangenen) Auferstehung als auch in der Parusie – darunter will Agamben nicht die Wiederkunft Christi verstanden wissen, sondern die Anwesenheit („presence“) des messianischen Ereignisses. Ein kurzer wortgeschichtlicher Exkurs, und Agamben definiert die Parusie als das Neben-sich-selbst-Sein des Ereignisses, eine paradoxe Figur, die der Messias Kafkas anschaulich macht, der nicht am Tag seiner Ankunft, sondern einen Tag später ankommt. Agamben richtet mit Paulus eine Zäsur ein, deren wichtigstes Merkmal es ist, gegenwärtig zu sein. In diesem Raum zwischen zwei Zeiten werden Subjekte in ihrer radikalen Endlichkeit denkbar; Subjekte, die, ohne der Zukunft zu verfallen, leben in der Zeit, die bleibt.

Die messianische Zeit des Giorgio Agamben ist ein überhistorisches „Paradigma“, das er an die Gegenwart heranträgt. Vielleicht müsste eine Kritik genau hier ansetzen: an Agambens freiem Gleitflug über die Jahrhunderte und Epochen. Doch ohne die überfällige Übersetzung seiner Bücher wird die Diskussion die Gemäuer einzelner kulturwissenschaftlicher Institute kaum überschreiten. „Homo sacer“, das Buch, das ihn berühmt machte, ist, wie schon vor ein paar Jahren, bei Suhrkamp für den kommenden Oktober angekündigt. Von einem weiteren zeitlichen Aufschub war in Frankfurt nichts mehr zu hören.

RENÉ AGUIGAH