Ein Ungeheuer mit Namen Ingeborg

„Ich will zugrunde gehen“: So ein Satz ist typisch Bachmann, die es unter dem Absoluten eigentlich nie getan hat. Am kommenden Montag hätte die erste Medienautorin Deutschlands ihren 75. Geburtstag feiern können. Das Leben, das sie in den Sechzigern führte, wäre heute nicht mehr möglich

von DIEMUT ROETHER

Ingeborg Bachmann habe ich nie kennen gelernt. 1973, als sie starb, bin ich gerade aufs Gymnasium gekommen. Alles, was ich von ihr weiß, habe ich gelesen: in ihren Büchern und in Texten, die andere über sie geschrieben haben. Fast nichts wusste ich über die Bachmann, als ich „Undine geht“ das erste Mal las. Verstanden habe ich, dass hier eine Frau, eine Geliebte, ihre Enttäuschung über die falschen Versprechen der Männer, über den Verrat ihrer Liebe klagt. Später, im literaturwissenschaftlichen Seminar lernte ich, dass Undine keine Frau sei, sondern „die Kunst, ach die Kunst“.

Nur durch einen Bruchteil der Regalmeter Sekundärliteratur, die Wissenschaftler in Anrufung der Großen Dichterin veröffentlichten, habe ich mich hindurch gearbeitet. Diesen Texten entnahm ich, dass Ingeborg Bachmanns Schreiben von ihren Zeitgenossen als „unmodern“ empfunden wurde.

Mir erschien es radikaler, unversöhnlicher und moderner als alle Bölls, Grass oder Handkes, die ich zuvor gelesen hatte. Denn aus Bachmanns Texten – vor allem der so viel geschmähten Prosa – las ich, dass hier eine aufs Ganze ging. Dass sie in ihrer fast monströsen Suche nach Wahrheit kein Risiko scheute – im Schreiben nicht und im Leben wohl auch nicht.

„Ich will zugrunde gehen.“ Dieser Satz aus dem Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ war in seiner Vieldeutigkeit Programm für Bachmanns Leben und Schreiben. Sie war alles andere als cool, ging nie auf Distanz zu dem Ungeheuerlichen, das sie beschrieb, und konnte dabei doch verblüffend ironisch sein wie in der Klage der Undine: „Ihr Ungeheuer mit Namen Hans!“ So paradox, so pathetisch und komisch zugleich war nur sie. Denn nichts von dem, was sie schrieb, war eindeutig. Sie hat die Widersprüche gesucht, gelebt und großartig beschrieben: Sie war Undine und das Ungeheuer.

All ihre Texte kreisen um ein Thema, das Thema: Was Menschen einander im Namen der Liebe antun. Die ganze Wahrheit darüber, was Ingeborg Bachmann und Max Frisch einander im Namen der Liebe angetan haben, werden wir nie erfahren. Es ist aber auch nicht wichtig. Es ist nicht wichtig, um zu verstehen, dass „Malina“ ein Roman über die Unmöglichkeit der Liebe ist. Darüber, dass Liebe, die wahre Liebe, immer Erlösung und Auslöschung zugleich ist. Typisch Bachmann: Unter dem Absoluten kann sie es nicht. Nur leben kann so keine.

Aus den Texten über sie habe ich erfahren, dass die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann die Allüren einer Diva und gleichzeitig die Attitüde der Schüchternen pflegte. Dass ihr Diskretion über alles ging. Dass sie ihrem Geliebten Max Frisch nicht einmal die eigenen Freunde vorstellte, weil sie eine große Scheu davor hatte, „dass Menschen, die ihr nahe stehen, einander begegnen“. Dennoch hat sie sich für ein Leben als öffentliche Person entschieden, indem sie beschloss, freie Schriftstellerin zu werden.

„Bachmann war die erste Medienautorin in Deutschland“ schreibt die Schriftstellerin Ulrike Draesner in einem Aufsatz über sie. Immerhin hat die intellektuelle Dichterin mit 28 geschafft, wovon Deutschlands intellektuellster Entertainer Harald Schmidt mit 43 noch träumt: auf dem Titelbild des Spiegel zu landen.

Überrascht stelle ich beim Lesen der Titelgeschichte von 1954 fest, wie sehr sich die Spiegel-Geschichten damals und heute gleichen: Nach einer vermutlich erfundenen Anekdote über die Römer, die sich durch die lärmende Schreibmaschine der deutschsprachigen poeta in ihrer Nachtruhe gestört fühlen, folgt die obligate Einordnung der österreichischen Literatin in die deutschsprachige Nachkriegslyrik („Große Alte“, „Generation der Mitte“, „Trauernder Nachwuchs“). Der Artikel endet schließlich mit dem Verweis auf berühmte Vorgänger in Kunst und Literatur, die in Rom lebten – und starben. Der Text könnte heute mit wenigen Änderungen – und allen Klischees – genauso erscheinen. Aber im Jahr 2001 hätte der Spiegel einer kaum bekannten, etwas spröden Lyrikerin aus Österreich bestenfalls eine halbe Seite frei geräumt.

Kommenden Montag, am 25. Juni, hätte die Bachmann ihren 75. Geburtstag gefeiert. Unmöglich, sie mir als 75-Jährige vorzustellen: Als Literaturnobelpreisträgerin, die Interviews zur Lage der Nation gibt? Als große Visionärin des Feminismus, von Alice Schwarzer zum Geburtstag mit einer Laudatio bedacht? Als Haider-Gegnerin? Als empörte Kritikerin des Menschenzoo-Fernsehens? Als alternde Diva, die in Talkshows über ihre Eskapaden mit jüngeren Männer plaudert? Je mehr ich über sie lese, desto mehr wird mein Bild von Ingeborg Bachmann überdeckt von einem, das ich kürzlich im Kino gesehen habe: Eine Frau mit schwarzer Perücke, bekleidet mit einem extravaganten Mantel stolpert über ein leeres Feld. Im Hintergrund ist eine öde Hochhaussiedlung zu sehen. Die Frau ist die Schauspielerin Hannelore Elsner in der Rolle der verzweifelt nach Halt suchenden Schriftstellerin Gisela Elsner kurz vor ihrem Selbstmord. Der Film hieß „Die Unberührbare“.

Es muss das Rauchen sein. Der Alkohol und die Tabletten. Das Leiden an der Welt. Die Ausweglosigkeit. Die Ahnung, dass das Leben, das Ingeborg Bachmann in den Sechzigern führte, in den Achtzigern nicht mehr möglich gewesen wäre . . . Auch nur Klischees.

Aber was bleibt, sind ihre Bücher. Und je weniger diejenigen werden, die behaupten, zu wissen, wer und wie die Bachmann war, desto mehr wird sie nach ihren Texten beurteilt werden – so wie sie es sich immer gewünscht hat: „Dichtern wird man in der Stille gerecht, denn wenn alle Deutungen veraltet und alle Erklärungen verbraucht sind, erklärt sich ihr Werk aus der unverbrauchbaren Wahrheit, der es sich verdankt.“