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Erzähl mir eine Lüge

■ „explosive“: Das Jugendtheaterfestival endete mit dem Genter Speeltheater

Stuhlreihe, Tanzstunde, Stühleklettern: Das Anfangsbild des Genter Speeltheaters umreisst die Thematik. Jung sein, zusammensein, wer sein?

Der ewige Außenseiter, verlegen-hochgeknöpft in einen Anzug geklemmt, versucht beharrlich, seine Fragen zu stellen: Worauf bin ich stolz? Was würde ich tun, wenn ich noch fünf Minuten zu leben hätte? Oder auch: Erzähl mir eine Lüge über dich. 15 SpielerInnen, mindestens 45 Antworten. Die Genter zeigen sich in winzigen Miniaturen, flüchtigen Andeutungen ihrer Selbstdefinitionen. Meine Hände, meine Brüste, Madonna, das Kind von Diana und Charles, ein belgischer Rockstar – die Antworten tauschen sich aus, verwechseln sich, chaotisieren zu einer Collage von Träumen und Befindlichkeiten.

Unter all dem liegen die Stimmen der Comedian Harmonists, die nostalgisch die Jugendzeit besingen. Immer wieder kommt diese akustische Basisfolie zu Gehör, als Pausenfüller zwischen bombastischen Massenszenen und als verklärt-entrückte Aussenperspektive: Die Irrungen, Wirrungen, Selbstbefragungen, sie schmelzen dahin mit der Zeit – so jedenfalls suggeriert es der easy-listening-sound.

Doch bis dahin stehen Klärungen an. „Verliebt verlobt verheiratet“ schlagert aus dem Off, die Genterinnen flanieren an zwei ihrer männlichen Mitspielern vorüber, erproben Anmache und Selbstbehauptung. Die Extrovertierteste schließlich wagt sich auch an den Außenseiter heran, stopft ihm den Kragen mit Rosen voll – nachdem sie alle potentielle Konkurrenz von der Bühne geschrien hat. Doch das Objekt der überbordenden Interessensbekundung wird keineswegs Galan, höchstens Stopfpuppe.

Immer wieder Thema: Der Einzelne und die Gruppe; immer wieder formale Referenz: Pina Bauschs Tanztheater. Im Selbstexperiment unterziehen sich die Genter den Regeln der Wuppertaler Bewegungspäpstin, wobei beeindruckende Choreografien entstehen. Nur der Schluss, ausgerechnet, der dem Prinzip des sich beständig vergrößernden Bewegungsimpulses folgt, gerät seltsam leer, kommt über die Intensität eines durchschnittlichen Warming-up nicht hinaus. Dabei ist das szenische Setting so verheißungsvoll: Bis zum vordersten Rand der Bühne sind die GenterInnen herangerückt, die Gesichter, die in den davorliegenden 70 Minuten in soviel Bewegung zu sehen waren, ganz nah bei ihrem Publikum. Dahinter schwebt eine junge Frau über die Bühne, gezogen von Didos (Purcells) eindringlicher Einsamkeitsarie. Ein dichter Moment, doch dann beginnt die Bewegungsstudie, die in einer banalen Juckreizorgie endet – und leider auch das Stück beendet.

Deswegen lieber ein Rückblick zum starken Anfang: Da waren die GenterInnen ein im guten Sinn imposantes Ballett, das zu kulminierenden Orchesterfluten über die Bühne rollte. In diesem Ensemble erzeugten sie Wucht. HB

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