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Kein verlängerter Arm der USA

Das Haager UN-Tribunal: Im Verlauf seiner über siebenjährigen Tätigkeit hat sich das Gericht als unabhängig gegenüber den Kriegsparteien erwiesen und Verbrechen gleich welcher Seite verfolgt

BERLIN taz ■ Claude Jorda, Präsident des Jugoslawien-Tribunals, vermied nach der Überstellung Milošević’ an den Haager Gerichtshof jeden Triumphalismus. Dennoch sprach auch er in der französischen Zeitung Le Monde von einem „Wendepunkt in der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Zum ersten Mal muss sich ein ehemaliger Staatschef einem Gericht stellen, das weder seinem Heimatland noch einer Siegernation zugehört, sondern nach dem Willen der UNO gebildet worden ist.“

Diese Einschätzung Jordas stützt sich auf den Gründungsakt des Gerichts, aber auch auf die Urteilstätigkeit seit seiner Bestellung Ende 1993. Der damalige Beschluss des UN-Sicherheitsrats war einstimmig erfolgt, also mit Zustimmung Chinas und Russlands. In den Strafverfahren wegen Verbrechen in Ex-Jugoslawien wurden nur Konventionen und Verträge zu Grunde gelegt, die auch Jugoslawien ratifiziert hatte.

Damit war dem Hauptargument gegen die Nürnberger Prozesse: „Keine Strafe ohne zur Tatzeit bestehende Rechtsnorm“, von vornherein der Boden entzogen. Das Gericht war unter dem „Erzwingungs“-Kapitel VII der UNO-Charta gebildet worden. Das bedeutet, dass jedes UNO-Mitglied zur Mitarbeit verpflichtet war und sich den Urteilen des Gerichts fügen musste. Die Kompetenz der Haager Richter war nach dem Statut weit gefasst. Sie konnten und können jedes Verfahren unabhängig von der je nationalen Justiz an sich ziehen. Diese Regelung geht weiter als die in dem entsprechenden Statut des künftigen Internationen Strafgerichtshofs und entspricht der Lage in den früheren jugoslawischen Teilrepubliken, wo an eine unabhängige Justiz bis in die jüngste Zeit nicht zu denken war.

Von Juristen war die Gründung des Jugoslawien- wie des Ruanda-Tribunals seinerzeit überwiegend begrüßt worden, den Politikern galt sie in erster Linie als Propagandamittel zur Besänftigung der durch die Massenmorde in Bosnien aufgebrachten Öffentlichkeit. Nicht nur akzeptierten die Verhandlungsparteien des Dayton-Abkommens Milošević als Vertreter der „serbischen Seite“, sie verweigerten darüber hinaus auch jede praktische Hilfe bei der Ermittlungsarbeit des Tribunals und bei der Verhaftung mutmaßlicher Kriegsverbrecher. Diese Haltung änderte sich aus leicht einsehbaren Gründen als der Kosovo-Konflikt eskalierte.

Im Verlauf seiner mehr als siebenjährigen Tätigkeit hat sich das Gericht als unabhähgig gegenüber den Kriegsparteien erwiesen und Verbrechen gleich welcher Seite verfolgt. Bei der Auswertung von Materialien hat es sich nicht mit geheimdienstlich gefilterten Dokumenten begnügt, sondern den gesamten jeweiligen Bestand eingesehen. Auch die Ermittler des Gerichts „vor Ort“ akzeptierten keine vorgefertigen Berichte oder Zeugenaussagen. Deshalb ist es ungerechtfertigt, das Gericht als verlängerten Arm der USA oder einiger westlicher Mächte anzusehen.

Tatsache bleibt jedoch, dass die Anklagebehörde keine Ermittlungen im Fall einer Reihe von Luftangriffen der Nato im Frühjahr 1999 aufgenommen hat. Diese Haltung führte zu Konflikten innerhalb des Tribunals, sie mindert nach wie die Glaubwürdigkeit der Institution. Mit diesem Argument die Legitimation der Haager Richter zu bestreiten und das Verfahren gegen Milošević als Farce abzutun, wie dies der Exjustizminister der USA, Ramsay Clarke, tut, erscheint auch Kritikern der Haager Anklagebehörde als zu weitgehend.

Die meisten Völkerrechtler und politischen Kommentatoren (mit Ausnahme der serbischen Juristen) heben die Bedeutung des Prozesses gegen Milošević als Präjudiz für die künftige Tätigkeit eines internationalen Gerichtshofs hervor. Mag sich die positive Politik der USA gegenüber dem Tribunal auch taktischen Gesichtspunkten verdanken – mit der Schubkraft des Milošević-Prozesses für den Internationalen Strafgerichtshof, den die USA sabotieren, werden auch sie strategisch zu rechnen haben. CHRISTIAN SEMLER

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