: Der beste Helfer
Von Babelsberg nach Alpe D’Huez: Es gibt neben dem Team Telekom auch noch andere Menschen, die Jan Ullrich bei der Tour de France unterstützen
von STEPHAN ZEISIG
Radsport ist sicherlich die härteste Sportart überhaupt. Das spüre ich jedes Mal am eigenen Leibe. Ich schaue mir sämtliche Rennen am Fernseher an und bin danach immer ganz durchgeschwitzt und ausgepowert, denn als richtiger Fan knie ich mich natürlich voll rein. So trage ich auch meine rosa Radlershorts, mein magentafarbenes Team-Telekom-Trikot und meinen Radlerhelm. Ferner lege ich mich vor den Fernseher auf den Rücken und ahme mit meinen Beinen die Trittbewegung der Fahrer nach, die ganze Etappe lang. Erklimmen sie gerade mühsam einen steilen Anstieg, werden auch meine Beine schwerer.
Viele Leute irritiert es zunächst, wenn sie mich, in kompletter Radleruniform auf dem Boden liegend, diese Übung machen sehen. Ich verzichte nämlich auch nicht darauf, wenn Besuch da ist. Auf meiner letzten Geburtstagsfeier bat ich darum meine Gäste, vor dem Fernseher mal ein bisschen Platz zu machen, weil gerade auf Eurosport das 5. Teilstück der Romandie-Rundfahrt wiederholt wurde. Einige überlegten, ob es besser sei, woanders weiterzufeiern. Ich konnte sie dann aber animieren, mitzumachen. Genauer: Sie fungierten als meine Betreuer und mussten mir Powerdrinks und Kraftriegel reichen und Epo spritzen.
Leider ergab es sich nicht wirklich so, der Wunsch war hier wohl nachträglich Vater der Erinnerung. Stattdessen bewiesen sie mal wieder ihre mangelnde Bereitschaft zur Kooperation. Ich erntete nur Unverständnis: „Stephan!? Findest du es nicht sonderbar, vor uns hier auf dem Boden rumzustrampeln? Und dann dieser komische Dress!“ – „Mann, guckt doch“, japste ich, „da! Das ist der Jan! Ich unterstütze ihn, indem ich das Rennen mitfahre.“
Meistens wurde angezweifelt, dass ihm meine Bemühungen tatsächlich helfen, ja sogar dass er das überhaupt mitbekommt. „Doch! Der merkt das. Das ist Telepathie.“ Mit der Zeit verlor ich so alle Freunde. Nur meine Schwester hielt mir noch die Treue, musste allerdings alle Teamfunktionen gleichzeitig ausüben, inklusive der Massage. Geschadet hat es ihr jedenfalls nicht. Heute zieht sie ernsthaft in Erwägung, beim Team Telekom anzuheuern.
Selbstverständlich simuliere ich Rennen auch unter authentischen Wettkampfbedingungen. Meine Strecke dafür ist der Weg vom S-Bahnhof Babelsberg zum Unikomplex im Park. Die Straße führt auf den zwei Kilometern bergan. Es sind im Ganzen zehn Höhenmeter zu überwinden. Das lässt einen gut nachempfinden, wie es ist, über den 2.000 Meter hohen Col de la Madeleine und den 2.600 Meter hohen Col du Galibier zu müssen. Ja, der letzte Abschnitt kommt den steilen Serpentinenrampen der 13 Kilometer Anstieg von Alpe d’Huez verdammt nahe.
Nur eine unbedeutende Kleinigkeit unterscheidet mich von den richtigen Profis. Ich laufe die Strecke, denn wegen eines Hörfehlers mangelt es mir an dem für Radfahrer so unabdingbaren Gleichgewichtssinn. Mit Stützrädern könnte dem zwar abgeholfen werden, doch dieser Kompromiss ist mir zu wenig windschnittig. Eigentlich ist es ohnehin nebensächlich, ob ich nun mit oder ohne Fahrrad Fahrrad fahre. Wem fällt diese Marginalie schon auf?
Meine Leistung orientiert sich an der Form von Jan Ullrich, er ist unbestritten mein Lieblingsfahrer. Und der einzige Mann, dem ich bisher einen Orgasmus verdanke. Ich erlebte ihn während der legendären 97er Etappe rauf nach Andorra, als Jan ins Gelbe Trikot kletterte. Dabei handelte es sich allerdings nicht um einen sexuellen Orgasmus, sondern um einen, der aus der Wertschätzung für die Leistung eines anderen resultiert, also einen sportlichen Orgasmus. Seitdem empfinde ich eine tiefe Loyalität gegenüber Jan Ullrich.
Jan kommt wegen seiner Naschlust immer etwas übergewichtig aus dem Winter. Darum verschlinge auch ich um die Jahreswende übertrieben viele Süßigkeiten, die leider bei mir nicht anschlagen. So muss ich ein wenig manipulieren. Unter mein Telekom-Trikot stopfe ich zwei Kopfkissen – mein Winterspeck. Ebenso wie Jan im März und April dem Feld meist hinterherfährt, sehe auch ich meine Gegner in dieser Saisonphase nur von hinten.
Meine Gegner bestehen aus einer alten Frau, die zufällig mit ihrem Krückstock jeden Tag genau denselben Weg lang muss. Während ich Jan Ullrich bin, ist sie Lance Armstrong. Lance ist oft schon im Frühjahr in ausgezeichneter Verfassung. Um dieses Leistungsgefälle zu dokumentieren, lasse ich mich absichtlich von ihr abhängen. Deshalb erscheine ich regelmäßig zu spät in der Uni. Während ich so hinter Armstrong herschleiche, keuche ich betont angestrengt und setze einen schmerzverzerrten Gesichtsausdruck auf, weil Jan Ullrich in dieser Zeit wohl das gleiche Bild abgibt. Regelmäßig sprechen mich darum wildfremde Menschen an: „Geht’s Ihnen nicht gut? Haben Sie einen Asthmaanfall? Sollen wir einen Arzt holen?“ – „Nee, nee! Ich bin einfach noch nicht in Form“, beruhige ich sie, obgleich ich mir nicht sicher bin, ob es sie beruhigt, wenn ein Zwanzigjähriger nicht die Form aufbringt, um zwei Kilometer schneller als eine Frau mit Krückstock zu laufen, und dabei aussieht, als breche er gleich tot zusammen.
Des Weiteren wird Jan Ullrich im Frühjahr oft krank. Diese Aufgabe ist für mich ein Kinderspiel. Ich bin so gut wie immer krank. Kranksein ist mein natürlicher Zustand. Nur wenn ich Pech habe, werde ich im Frühjahr manchmal gesund. Im Sommer dann, wenn Jan seine Topform hat, halte auch ich mühelos mit der alten Frau mit. Landet er im Rennen vor Lance Armstrong, laufe ich ohne äußerliche Anstrengung und elegant in ihrem Windschatten. Kurz vor dem Unikomplex schere ich dann seitlich aus und sprinte rechts an ihr vorbei. Dabei schlenkere ich mit meinen Armen derart, als zöge ich an einem Fahrradlenker und führe gerade einen Spurt. Habe ich zehn Meter Vorsprung, reiße ich meine Arme in die Luft und bejubele meinen Sieg. Aus meinem Rucksack krame ich dann einen gelben Sportnicki aus meiner Grundschulzeit. Das ist mein Gelbes Trikot, und ich streife es mir über.
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