wir lassen lesen: Der DDR-Sport in Einzelschicksalen
(N)ostalgie mit Lücken
Lexika sind weit mehr als nur öde Nachschlagewerke; man darf die Wissenshorte auch als aussagekräftigen Puls des Zeitgeschehens betrachten. Schließlich wohnen in den Beschreibungen der Dinge und Sachverhalte oftmals Wertungen, die nachfolgende kritische Generationen als höchst subjektiv entlarven oder wenigstens, das ist dann die wohlwollende Variante, dem Zeitgeist zuschreiben. Natürlich ist das ganz allgemein geredet. Beispiele dafür gibt es genug, manche sind gar beängstigend lebendig.
Vor einiger Zeit ging ich mit dem Fußballtrainer Jörg Berger durch die große DFB-Ausstellung im Oberhausener Gasometer. Er kannte sich nicht gut aus in der frühen Fußballgeschichte, und dieserhalb bat er mich um ein sinniges Geschäft: Er würde mir gern etwas aus seiner Karriere erzählen, wenn ich ihn durch die Pionierzeit des deutschen Fußballs führte. Eine Abteilung der Ausstellung barg die erschütternde Biografie von Julius Hirsch, eines jüdischen Fußballers, dessen Leben in Auschwitz erlosch. Dort lag auch eine Ausgabe des „Bilderwerks des deutschen Fußballs“, ein 1937 vom Kicker herausgegebenes Sammelbilderalbum, das alle deutschen Nationalspieler porträtierte. Unter dem Buchstaben H war zwar unter anderem Herberger aufgelistet, der Name Hirsch jedoch fehlte. Die Karriere des siebenmaligen Nationalspielers war damit einfach aus den Annalen gelöscht, wie übrigens auch die seines jüdischen Teamkameraden Gottfried Fuchs, der mit seinen 10 Toren in einem Spiel, erzielt im Jahre 1912 beim 16:0 gegen Russland, immer noch einen Rekord hält.
„So ähnlich ist es mir auch passiert“, sagte Berger. Das erste DDR-Lexikon des Fußballs aus den 80er-Jahren hatte ihn ebenfalls ignoriert, nachdem er 1979 in den Westen geflohen war. Erst eine Neuauflage in den 90er-Jahren führte Berger wieder, den die DDR-Funktionäre einst als Nationaltrainer vorgesehen hatten.
Nun ist mit dem „Großen Lexikon der DDR-Sportler“ ein neues Sport-Lexikon erschienen. Jörg Berger ist darin nicht vertreten. Das muss man dem Buch aber nicht vorwerfen, schließlich konzentriert sich Journalist Volker Kluge auf diejenigen DDR-Sportler, die bei Olympischen Spielen Medaillen gewonnen haben. Zusätzlich zu diesen 755 Athletinnen und Athleten porträtiert Kluge 245 subjektiv ausgewählte Welt- oder Europameister „oder aber solche, die sehr populär waren, auch wenn das eine oder andere Kriterium auf sie nicht zutraf“.
Kluge war langjähriger Sportchef der größten DDR-Tageszeitung Junge Welt, daher darf man ihn als intimen Kenner der damaligen Sportszene bezeichnen. Wegen seiner dadurch bedingten Nähe zu vielen der porträtierten Athleten durfte man nicht ernsthaft erwarten, dass es sich bei diesem Lexikon um eine Abrechnung mit dem System DDR-Sport handeln würde. Man kann es als absichtliche Informationslücke werten, wenn die heiklen Themen Doping und Staatssicherheit kaum vorkommen. Konkret heißt das: Kein Wort zum Beispiel über das bittere Aroma des Dopingverdachts im Fall detr Schwimmerin Kristin Otto, kein Hinweis auf die IM-Tätigkeit des Fußballers Ulf Kirsten. Trotzdem zeugt die Berücksichtigung von prominenten „Republik-Flüchtlingen“ wie Jürgen May oder Wolfgang Thüne von der einzigartigen historischen Konstellation, mit der sich der überaus erfolgreiche DDR-Sport – in welchem anderen Gebiet der DDR-Gesellschaft trat dies offenkundiger zutage! – auseinander setzen musste.
Trotz aller angesprochenen Mängel ist dieses Buch interessant und lesenswert. Schließlich beschreibt es nicht allein die sportlichen Erfolge, sondern versucht zusätzlich die post-sportlichen Lebenswege der Athleten weiterzuzeichnen. Es ist ein unverhohlener Akzent von (N)ostalgie in diesem Werk, ein lieblicher Ausdruck von Wehmut. Und es beweist, dass Lexika weit mehr als nur öde Nachschlagewerke sind.
ERIK EGGERS
Volker Kluge: „Das große Lexikon der DDR-Sportler“, Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin, 448 Seiten, DM 39,80
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen