: Ein Attentat, das Rätsel aufgibt
aus Düsseldorf PASCAL BEUCKER
Der niedergeschlagene Ton in der Stimme des Staatsanwalts ist nicht zu überhören. „Wahrscheinlich kann nur noch der Zufall helfen“, sagt Johannes Mocken – ein Jahr nach dem Bombenanschlag in einer Düsseldorfer S-Bahn-Station. „Wir haben versucht, die Tat mit allen Mitteln aufzuklären. Mehr kann man nicht tun.“ Von Resignation mag er dennoch nicht sprechen. „Schreiben Sie lieber: Ich halte den Ermittlungsstand für äußerst unbefriedigend.“
Zwölf Monate sind seit jenem 27. Juli 2000 vergangen, als um 15.04 Uhr eine Bombe am Bahnhof Wehrhahn explodierte und eine bundesweite Debatte über die Gefahr von rechts auslöste. Sieben Frauen und drei Männer, Schüler einer nahe gelegenen Sprachenschule, wurden verletzt.
Mit den Folgen haben die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, sechs von ihnen jüdischen Glaubens, immer noch zu kämpfen. Zwei von ihnen, Tatjana L. und ihr Ehemann Michail, konnten erst Ende Juni das Krankenhaus verlassen. Sie sind weiterhin in ärztlicher Behandlung. Ihm wurde im Splitterhagel der Bauch aufgerissen. Ihr hatte die Detonation ein Bein fast abgerissen. Zudem tötete ein Bombensplitter ihr ungeborenes Baby.
Sie sind nicht die einzigen, die bis heute an den körperlichen Folgen des Anschlags zu leiden haben. Bei Ekaterina P. wurde die Hauptschlagader des rechten Beins zerrissen und das Lymphsystem zerstört. Immer noch schwillt ihr Bein an. Sie muss wohl erneut operiert werden. Boris V. zerfetzten die Splitter den Darm. Schwere Lasten kann er nicht mehr heben. Alle zehn Opfer haben bis heute mit großen psychischen Problemen zu kämpfen.
Ein Bekennerschreiben zu dem Anschlag ist bis heute nicht aufgetaucht. Die Polizei hat über 1.400 Menschen vernommen, Hunderten von Spuren ist sie nachgegangen. Die Ermittlungsakten füllen unzählige Aktenordner. 120.000 Mark Belohung setzten Staatsanwaltschaft und Stadtverwaltung für Hinweise aus. Alles vergeblich. Einziges greifbares Ergebnis: Fast 30 Verfahren wurden gegen Trittbrettfahrer eingeleitet. Zuletzt umfasste die „Ermittlungskommission Ackerstraße“, in der anfangs mehr als hundert Spezialisten arbeiteten, nur noch zwei Beamte. Pünktlich zum Jahrestag wird sie nun wieder auf zehn Ermittler aufgestockt. Die Hoffnung von Staatsanwalt Mocken: „Vielleicht bringen die jetzt erscheinenden Berichte in der Zeitungen neue Hinweise.“
Ob tatsächlich Nazis hinter dem Anschlag stecken, ist heute genauso unklar wie vor einem Jahr. „Wir ermitteln weiter in alle Richtungen“, sagt Staatsanwalt Mocken. Dabei orientiere er sich an drei Theorien: „Tat eines Verrückten, Tat von rechts, Tat im Zusammenhang mit Erpressung.“ Die ersten beiden Varianten hält Mocken allerdings für weniger wahrscheinlich. Verrückte Einzeltäter wie der österreichische Briefbombenattentäter Franz Fuchs seien in der Regel Wiederholungstäter – doch es gab bislang keine erkennbare Wiederholungstat. Gegen einen rechten Anschlag spreche, dass sich bis heute niemand dazu bekannt hat. Nicht einmal szeneintern habe sich jemand mit dem Anschlag gebrüstet oder Tatwissen ausgeplaudert. Das stehe im Widerspruch zum Bekenntniseifer der Rechten.
Deshalb neigt Johannes Mocken eher der Russenmafiatheorie zu – wenn auch nur sehr vorsichtig. „Das ist sicherlich eine Theorie, die man nicht einfach von der Hand weisen kann“, sagt der Staatsanwalt. Konkrete Anhaltspunkte gebe es allerdings nicht. Bereits im Herbst vergangenen Jahres hatte das Fernsehmagazin „Kontraste“ über mögliche Zusammenhänge mit einem kurz zuvor aufgeflogenen Ring russischer Schutzgelderpresser spekuliert. Der Spiegel legte in dieser Woche nach: Die gerade erst beendete Analyse des Sprengstoffs weise Richtung Osten. Der Staatsanwalt warnt allerdings vor voreiligen Schlüssen. Zwar ließen die TNT-Verunreinigungen, auf die sich der Spiegel stützt, tatsächlich auf eine mögliche Quelle in Osteuropa schließen. Aber selbst wenn der Sprengstoff von dort stamme, sage das noch nichts über die Herkunft des Täters. Sicher sei nur eins: „Die Bombe hat ein Profi hergestellt.“
Auch der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Esra Cohn, mahnt bei allen Spekulationen zur Vorsicht. Er selbst glaube aber, dass „eher Rechtsradikale“ hinter der Tat stehen. Er habe sich nicht vorstellen können, „dass so etwas wieder in Deutschland passieren kann“. Bei den Gemeindemitgliedern bleibe „ein unsicheres Gefühl“, solange die oder der Täter nicht gefasst sind. Trotzdem baut die Jüdische Gemeinde, mit 6.500 Mitgliedern die viertgrößte in der Bundesrepublik, jetzt ein neues Schulzentrum. Eine Grundschule, eine Sporthalle, ein Jugendzentrum und ein Kindergarten sollen darin untergebracht werden. Allerdings hat die Gemeinde ihre Sicherheitsmaßnahmen seit dem S-Bahn-Attentat intensiviert. „Wir müssen auf der Hut sein“, sagt Cohn.
Dem Düsseldorfer Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) liegt dagegen die Mafiatheorie des Staatsanwalts „gefühlsmäßig am nächsten“. Dann wäre seine Welt wieder in Ordnung. Er könnte aufatmen wie im vergangenen Dezember: Nach dem Anschlag auf die Düsseldorfer Synagoge waren zwei Täter „arabischen Geblüts“ gefasst worden, wie Erwin formuliert. Der Bürgermeister hatte sich maßlos darüber geärgert, dass er seine schöne Stadt plötzlich in eine Ecke gestellt sah mit Orten wie Mölln, Rostock und Solingen. „Das war völlig kontraproduktiv“, wettert der Politiker. Erwin hatte bereits verhindert, dass die Wehrmachtsausstellung in Düsseldorf gezeigt wurde. Und bei einer städtischen Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht erinnerte er schon mal an die „Arier, die helfen wollten“. Ohnehin redet er lieber über die „Gefahr von links“ – und natürlich über die Bewerbung seiner Stadt für die Olympischen Spiele 2012.
Immerhin: In den nächsten Wochen will sich Erwin erstmals mit den Opfern des Anschlags treffen. Die Einladungen zu dem „ganz lockeren Gespräch“ im Rathaus sind bereits verschickt. Doch noch.
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