: „Die Besten sind gestorben“
Sergio Ramírez, Schriftsteller und ehemaliger Vizepräsident Nicaraguas, über sein Buch „Adios, Muchachos“ und die Frage, ob sich die Opfer der sandinistischen Revolution gelohnt haben
Interview CRISTINA NORD
taz: Herr Ramírez, Sie sprechen und schreiben viel von Opfer. Welche Beziehung besteht zwischen dem Sandinismus und der christlichen Religion? Sergio Ramírez: Es war wie eine Epiphanie, als der Marxismus und das Christentum in Lateinamerika aufeinander trafen. Besonders in Nicaragua, weil die Befreiungstheologie sich bis dahin nirgendwo hatte umsetzen lassen. Mit der Revolution 1979 wurde das Land zu einer Art Laboratorium für die Befreiungstheologie.
Und jenseits der Frage von offizieller Kirche und Befreiungstheologie?
Der Katholizismus, der von Spanien nach Lateinamerika kam, feiert nicht das Leben, nicht die Wiederauferstehung, sondern den Tod. Der wichtigste Feiertag ist der Karfreitag. Die dazugehörige Vorstellung ist die eines schrecklichen Todes. Womit wir in Lateinamerika aufwachsen, das sind die Dornenkorne, die Folter, die Kreuzigung, die Nägel in den Gliedern. Und genau dies wiederholt sich in der Figur des Guerillero, der keine Hoffnung hat zu überleben. Seine Wiederauferstehung ist die Zukunft der Revolution – aber das wird nicht in seinem Leben sein. Wie die frühen Christen, die bereit waren, in der Arena von den Löwen getötet zu werden.
Aber ist das nicht eine erschreckende Vorstellung: Sich der Revolution anzuschließen, bedeutete in jedem Fall zu sterben?
Zunächst beginnen die Leute, diese jungen Männer zu respektieren, die Tag für Tag auf den Zeitungsseiten auftauchen, im Leichenschauhaus, getötet. Später unterstützen sie sie. Das Vorbild des Opfers dient dazu, die ethische Basis der Revolution zu entwickeln. Daher schreibe ich auch in meinem Buch „Adios, Muchachos“, dass wir, die wir nach dem Triumph der Revolution an die Macht kamen, die Überlebenden sind, die Unvollkommenen, die Schwachen, die aus der zweiten Reihe. Die Besten sind gestorben. Ihr Opfer muss immer geachtet, ihrem Vorbild immer gefolgt werden.
Eine nicht zu bewältigende Last.
Ja. Zumal der Moment kommt, in dem die Heiligen bürokratisiert werden. Ein sehr heikler Moment, wenn das Heiligsein zu einer Verhaltensregel wird.
Werden die so oft beschworenen Helden und Märtyrer nicht ohnehin instrumentalisiert?
Ab einem bestimmten Punkt ist es Erpressung. Wenn etwa den Leuten, die Kritik äußern, gesagt wird: Damit spaltet ihr die Frente, und das ist unvereinbar mit dem Vorbild der Helden und Märtyrer, die für die Einheit der Frente ihr Leben ließen, die ihr Blut für die Revolution gaben. Innerhalb dieser Logik verrät jede Kritik das Andenken der Helden und Märtyrer. Das ist sehr schwierig, weil es nämlich kaum einen Sandinisten gibt, der nicht ein Familienmitglied oder einen engen Freund verloren hätte im Kampf gegen Somoza. Dadurch wird die Anrufung der Helden und Märtyrer zu einem sehr starken Druckmittel.
In „Adios, Muchachos“ kritisieren Sie die Politik der Frente Sandinista, und das sehr scharf. Zugleich weht ein Hauch von Nostalgie durch das Buch. Wie geht das eine mit dem anderen zusammen?
Das Buch besteht aus zwei Teilen: meinen persönlichen Erinnerungen und meinen politischen Reflexionen. Ich kontrastiere die ursprünglichen Ziele der sandinistischen Revolution – die Ethik, die Zukunftsvisionen, die Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft – mit der Wirklichkeit. Dadurch gelange ich zu einer Frage, die mit Reflexion und Gefühl gleichermaßen zu tun hat: Hat sich die Revolution gelohnt oder nicht? Das beantworte ich zum Schluss, und ich möchte mir und den Lesern eine Spur Hoffnung mitgeben: Ja, sie hat sich gelohnt. Das hilft mir, mich vor Bitterkeit zu hüten, denn das wäre das Schlimmste.
Sie verschränken die beiden Teile stark miteinander. Warum erzählen Sie nicht einfach in chronologischer Abfolge?
Ich schrieb diesen Roman – Verzeihung, gerade hat sich der Schriftsteller verraten – also, ich schrieb dieses Buch wie eine Erzählung. Je analytischer ein Buch wird, umso enger wird die Welt des Lesers. Daher wollte ich dieses Buch schreiben, als sei es ein fiktives Buch. Auch wenn es sich auf meine Erlebnisse stützt.
Kam Ihnen denn nie in den Sinn, ein fiktives Buch über die Revolution zu schreiben?
Das mache ich gerade. Es geht um ein tatsächliches Ereignis aus dem Jahre 1979, als sich die Macht Somozas noch nicht vollkommen aufgelöst und die Macht der Revolution sich noch nicht vollkommen durchgesetzt hat. Im Mittelpunkt steht ein Somozist, der gefangen genommen und von den Bewohnern eines kleinen Ortes verurteilt wird. Von der Verhandlung aus schaue ich zurück auf die Jahre des Somozismus, und zugleich versuche ich, das Verhalten derer zu beurteilen, die über den Somozisten urteilen. Das ist nicht leicht, es verunsichert mich immer wieder. Denn ein fiktives Buch ist immer auch ein Urteil, vor allem wenn es politische Ereignisse behandelt.
Anders als etwa Gioconda Belli in ihren Memoiren, sind Sie in „Adios, Muchachos“ sehr zurückhaltend, was Ihr Privatleben betrifft.
Nun, ich stelle die wesentlichen Konflikte dar, die sich rund um mein Privatleben ereigneten. Zuerst den Umstand, dass ich meine Familie vernachlässigt habe, dann die Konflikte, zu denen es kam, als ich aus der Frente Sandinista austrat. Die wiederum betrafen auch meine Familie. Ich wüsste nicht, was ich sonst hätte beichten sollen.
Die Figur des abwesenden Vaters spielt eine große Rolle. Nicht nur was Ihre eigenen Kinder betrifft, sondern auch im Hinblick auf Claudia, eine junge Frau, der sie in Mexiko begegnen und die Tochter einer gefallenen Guerillera ist. Sie kommt häufig vor im Buch und hat überdies eine Schlüsselrolle an dessen Ende. Warum?
Es ist etwas sehr Persönliches für mich, dass ich neben so vielen anderen Menschen Zeuge einer Entscheidung wurde: der zwischen Leben und Tod. Viele Kämpfer wussten, dass sie sterben würden. Trotzdem haben sie sich der Revolution verschrieben. Die Frage, die offen bleibt, ist: War ihr Opfer vergebens? Und wie antworten ihre Kinder darauf? Das ist für mich fundamental. Das Kind, das verlassen wurde, das von seinen Großeltern großgezogen wurde, das heranwächst mit einer schwachen Erinnerung an seine Mutter und sich fragt: Hat es sich gelohnt, dass die Mutter es verlassen hat, um sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen? Und das gemessen daran, dass die Früchte dieses Kampfes armselig sind, dass sich heute alles wieder dem Status quo ante zubewegt. Diese Frage stellen sich meine eigenen Kinder, die Claudias Generation angehören, seit die Frente Sandinista die Macht verloren hat, zumal sie mit ansehen mussten, was an Ungesetzlichem, an Korruption und persönlicher Bereicherung passierte.
Claudia kommt zu dem Schluss, dass sich das Opfer gelohnt hat.
Ja. Sie ist ein sehr politischer, junger Mensch, und sie unterstützt die Entscheidung ihrer Mutter, insofern diese Entscheidung in einem bestimmten Augenblick der Geschichte die richtige war – die Mutter hatte sich ja aus Solidarität mit den Armen entschieden. Deswegen mündet das Buch in die Begegnung mit Claudia. Ich hätte das Buch auf jeden Fall mit dieser Episode enden lassen, unabhängig von dem, was sie sagte. Ich wollte kein Happy End forcieren.
Sie hätten die Episode ans Ende gestellt, selbst wenn Claudia das Gegenteil gesagt hätte?
Natürlich.
Wie wurde Ihr Buch in Nicaragua aufgenommen?
Was meine alten Weggefährten von der Frente Sandinista angeht würde ich sagen: Das Schweigen ist absolut. Davon abgesehen, hat sich das Buch gut verkauft, 15.000 Mal, und das ist viel für ein kleines Land wie Nicaragua. Ich glaube, es wird viel gelesen.
Wenn Sie sich an Ihre Zeit in der sandinistischen Regierung zurückerinnern, vermissen Sie nicht manchmal die Möglichkeit der Gestaltung, der Einflussnahme, die Macht?
Ich vermisse diesen Abschnitt meines Lebens, aber ich vermisse auch die Jahre, in denen ich Oppositionschef in der Nationalversammlung war. Das war, nachdem Violeta Chamorro zur Präsidentin gewählt geworden war. Die Rolle, die mir damals zufiel, war mindestens genauso wichtig wie die des Vizepräsidenten. Denn es war ein sehr heikler Augenblick für das Land. Ich arbeitete sehr eng mit dem Regierungschef Antonio Lacayo und mit Humberto Ortega, dem Chef der Streitkräfte, zusammen. Und ich glaube, wir drei haben eine gewisse Stabilisierung der Situation erreicht.
Hat es Ihr Schreiben beeinflusst, dass Sie politische Macht ausgeübt haben?
Früher zog ich es vor, mich von politischen Themen beim Schreiben fern zu halten. Ich wollte das, was ich schrieb, nicht mit der Gegenwart belasten, mit der politischen Aktion. Es erschien mir immer schon gefährlich, innerhalb der Literatur Stellung zu beziehen. Denn das schwächt die Unbeugsamkeit, die Literatur haben muss. Doch im Grunde genommen sollte man auch unter literarischen Gesichtspunkten die politische Erfahrung nicht verachten, vor allem nicht die Erfahrung der Macht. Schließlich bildet die Macht, neben der Liebe, dem Tod und dem Wahnsinn, eines der ewigen Themen der Literatur. Und ich kann von mir behaupten, dass ich die Macht von innen kenne.
Ist die politische Macht verwandt mit der Macht, die ein Schriftsteller über seine Figuren hat?
Nein, das hat nichts miteinander zu tun. Ich glaube, dass es sehr schwierig ist, von Macht zu reden, die ein Autor über seine Figuren ausübt. Der Prozess des Schreibens gleicht einem lebenden Organismus. Die Figuren haben ihre eigene Kraft.
Sind es die Figuren, die die Macht ausüben?
Ja, sie emanzipieren sich von mir, führen ihr eigenes Leben, egal, ob ich das will oder nicht.
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