: Gefühle sind das Eigentum
„Jeder hat so einen Bauern in sich. Der ackert auf den Feldern der Erfahrung“: Der Autor Alexander Kluge im Gespräch über natürliche Zeit und Übereilung, Not und Wendigkeit, Irrtümer und das Böse
Interview REINHARD KAHL
taz: Herr Kluge, viele Leser arbeiten sich derzeit durch die 2.000 Seiten Ihrer „Chronik der Gefühle“. Sind Gefühle Ihr Lebensthema?
Alexander Kluge: Mein Lebensthema ist das Schreiben. Ich bin ein Autor, egal was ich mache, allerdings in verschiedenen Bewaffnungsformen. Nur wenn ich ein Buch schreibe, in meinem eigentlichen Medium, bin ich unbewaffnet im Umgang mit dem, was mich interessiert.
Unbewaffnet ist man verletzbar, gibt sogar seine Wunden preis. Das ist so wenig üblich wie seine biografische Spur nicht zu verdecken. Ihre führt immer wieder nach Halberstadt, wo Sie 1932 geboren sind.
Jeder Mensch lebt in der Welt, in die er als Kind geboren wurde. Aber dieses Halberstadt, an dem ich hänge, das gibt es gar nicht mehr. Es wurde zerbombt, es wurde durch Zuwanderung, Abwanderung und vierzig Jahre DDR mehrfach verändert. Dennoch hängt man am Ort der frühen Jahre. Die Treppe runtergefallen bin ich eben in Halberstadt. Ich behaupte nicht, dass alles stimmt, was ich von Halberstadt erzählt habe. Man kann mit dem, was man liebt, nicht objektiv umgehen. Was an Übertreibung subjektiv hinzukommt, der emotionale Mehrwert, den soll man gerade niemals vermeiden.
Das ist nicht selbstverständlich. Warum eigentlich nicht?
Im Grunde ist es doch normal. Wenn Sie einen alten Text nehmen, die Odyssee, dann fängt jeder Neuankömmling an zu erzählen, woher er kommt und wohin er will. Fremdling, rede! Auch in der Liebe erzählt man sich, woher man kommt, ehe man sich betastet. Aber unsere Gesellschaften sind objektivistisch verhärtet, in der Sitte sind wir sehr versachlicht. Das ist allerdings eine Oberfläche.
Wird nicht die Frage, wer bist du, als zudringlich empfunden?
Na ja, Sie haben doch in einem Essay die Formulierung gebraucht, Lebenslauf schlägt Maske. Das ist doch etwas Reizvolles, einen Menschen von seiner subjektiven Seite zu sehen. Durchschauen wird man ihn noch längst nicht. In jedem Menschen sind alle seine Zeitalter versammelt. Ich rede mit dem 60-Jährigen, wenn es ein älterer Mensch ist, und zugleich mit dem 6-jährigen Kind, das mir gegenübersitzt, oder mit dem 40-Jährigen. Sie alle sind jetzt in dieser einen Person versammelt. Jeder Mensch ist wie eine russische Puppe, in der noch andere stecken. In jedem sind viele Erfahrungsklassen und Redesorten vereinigt. Das soll man nicht verbergen. Gefühle sind sowieso unbestechlich. „Ich kann dich nicht leiden“ ist ein hartes Wort. Ich glaube nicht, dass es sich durch Beherrschung beseitigen lässt. Und umgekehrt, „Ich liebe dich!“ Das kann ein lebenslängliches Gefühl sein, unerwidert bleiben, und dennoch ist es unbeugsam.
Herr Kluge, vielleicht können wir das Auspacken der russischen Puppe auf Sie selbst anwenden? Kann man über seinen eigenen Kern sprechen?
Es kommt darauf an. Nehmen Sie das Verhältnis, das man zu seiner Mutter hat. Ich habe meine Geschichten einmal daraufhin nachgemessen, wie selten ich über meine Mutter schreibe. Ich kann über den Kern dessen, was mich bewegt, eigentlich nicht schreiben. Gleich daneben aber gibt es, wie beim schwarzen Loch, lebhafteste Bewegung. Ich schreibe über die Beziehung zu meinen Liebesobjekten, aber nicht direkt. Es ist also nicht indiskret, danach zu fragen. Man kann nur einiges davon nicht beantworten. Wenn es in der Bibel heißt, du sollst dir über Gott kein Bild machen, dann gilt das auch für Liebesobjekte, weil ihr Kern aus einer Bewegung, einer Geste oder aus einem Rhythmus besteht. Darüber kann Musik besser Auskunft geben als der geschriebene Text. Sie können mir glauben, dass ich von Texten sehr viel halte. Ich halte sie für sehr vertrauenswürdig. Aber es gibt etwas, was nur aus Bewegung besteht und nur übers Ohr verstanden werden kann.
Wie sind Sie zur Musik gekommen?
Mein Vater war Theaterarzt, das heißt Opernarzt, Sprechtheater interessierte ihn nicht. Wir Kinder wurden abgerichtet, ihn in Notfällen, zum Beispiel bei einer Entbindung, rauszuholen. Da hört man Musikfetzen. Gleichzeitig gab es das Radio, das für meine Generation etwas Elementares ist und für mich immer elementarer blieb als das Fernsehen. Ich muss nichts gucken, wenn ich etwas höre.
Sie haben mal gesagt, dass vieles von dem, was wir tun und denken, seinen Ursprung in dem hat, was unsere Eltern nicht deutlich ausgesprochen haben. An dem, worüber die Eltern nur geflüstert haben, werden wir später tätig.
Das hat auch Musil so beobachtet. Er sagt, ein Autor interessiert sich für das, was zehn Jahre vor seiner Geburt die Eltern beschäftigt hat, worüber die Eltern vor dem Kind nie genau gesprochen haben. Das sind Geheimnisse. Und dann kommt Zeitgeschichte hinzu. 1943 haben meine Eltern über Stalingrad getuschelt. Wenn Besuch kam, wurde der Junge rausgeschickt, saß aber unter dem Tisch und horchte. Er verstand nicht, was gesagt wurde. Dem geht man lebenslänglich nach und kommt dabei auf etwas ganz anderes als das, was sie erzählt haben. Ich glaube nicht, dass ich meine Eltern dadurch besser verstehe, dass ich ihre Geheimnisse später erforscht habe.
Man braucht rätselhaftes Material, um daraus eigene Klarheit zu modellieren, die selbst wieder neue Unklarheit und Geheimnisse für andere schafft. Darüber hinaus gab Ihnen das Pathos der Studentenbewegung den Antrieb, weit auszuholen und historische Lernprozesse zu untersuchen. Inspiriert aus der 68er-Emphase des Lernens.
Man kann unsere Gesellschaft als eine zweitausend Jahre alte Fabrik verstehen, in der menschliche Eigenschaften geschmiedet werden: Fleiß, die Fertigkeit zu sparen und zu investieren, das sind alles hohe Errungenschaften. Man lernt es wahrscheinlich nur durch Not. Die Bauernkriege, in denen die Menschen zu Leibeigenen gemacht und gequält wurden, gehören zu dieser Fabrik, die Unterdrückung und Entfremdung produziert hat. Eigenschaften, die der industrielle Prozess braucht, wurden aus der Not heraus bewirkt. Not macht erfinderisch. Das ist nicht bloß ein hingesagter Satz.
Notwendigkeit besteht ja aus Not und Wendigkeit.
Das ist doch eine ungeheuer witzige Sprachform, dass ich wendig werde aus Not. Das ist der Inhalt dieses dicken, also über tausend Seiten langen Buches, „Geschichte und Eigensinn“, das Oskar Negt und ich mit „Maßverhältnisse des Politischen“ fortgesetzt haben. Aber die Diskussion hat sich inzwischen verändert. Es ist nicht zu erkennen, dass wir heute Bestandsaufnahmen unserer Eigenschaften machen. Eigenschaften werden gegriffen und eingesetzt. Wir sind in unseren Haltungen aktueller geworden und weniger spekulativ. Das wird sich auch wieder ändern.
In dieser Zeit der Beschleunigung begannen Sie fürs Fernsehen zu produzieren.
Als ich gemerkt hatte, dass der Autorenfilm in den deutschen Kinos kaum eine Chance hat, habe ich mich, ähnlich wie Edgar Reitz mit seinem Projekt „Heimat“, dem Fernsehen zugewandt. Ich wollte die Arbeitsweise von uns Autoren wie einen Kammerton A in diesem anderen Medium erhalten. Und ich behaupte nach dreizehn Jahren, das ist als Spur möglich. Ich komme mir im privaten Fernsehen dennoch manchmal wie im Zoo vor, aber als ein authentisches Tier.
Alexander Kluge ist derjenige, der Sonntagabend spät, manchmal ist es schon Montagfrüh, dort wo man es am wenigsten erwartet, bei den Privatsendern RTL und Sat.1 . . .
. . . und bei VOX . . .
. . . kulturelle Sendungen macht, häufig sind es Gespräche. Es ist eine merkwürdige Mischung aus Gestrigem und Übermorgigen. Es ist nicht das heutige Fernsehen, das Sie da machen. Es gibt ja einen schönen Satz von Rousseau: Zeit gewinnen, indem man Zeit verliert, also verlangsamt.
Das ist hochinteressant. Goethe spricht ja davon, unsere Zeit sei veluziferisch. Das kommt von Velocitas, Geschwindigkeit, das ist Lateinisch, und von Luzifer, also teuflische Übereilung. Erfahrung ist aber sehr langsam. Sie ist bäuerlich. Jeder hat so einen Bauern in sich. Den behält er lebenslänglich und der ackert auf den Feldern der Erfahrung. Dessen Zeiten muss ich respektieren. Ihn kann ich nicht beschleunigen. Dieses Timing halte ich in meinen Sendungen aufrecht. Das wirkt gegenüber dem hektisch trommelnden Medium seltsam. Es ist aber nichts weiter als das, was außerhalb der Fernsehanstalt natürlich wäre.
Wenn es gelingt, solche Inseln von Eigenzeiten herzustellen, dann könnte davon vielleicht eine ansteckende Gesundheit ausgehen. Es gibt einen schönen Satz von Helmut Heißenbüttel: „Etwas platzt auf und färbt nach innen.“
Das Fernsehmedium selber macht das ja. Zum Beispiel mit „Big Brother“. Wenn Sie dessen Kern nehmen, war es der Versuch, etwas Authentisches zu zeigen, also diesen Programmdirektor einmal wegzubekommen, der wie ein Schullehrer vor den Zuschauern sitzt und aus ihnen Schulklassen macht. Dann blicke ich auf wirkliche Verhältnisse, auf etwas, das tempo ordinario hat. Tempo ordinario nennt man den Pulsschlag in der Musik. Selbstverständlich ist Techno schneller als der Pulsschlag. Ich glaube nicht, dass Medien langsamer werden. Aber ich glaube, dass es gut ist, wenn sie die natürliche Zeit, die Menschenuhr, als Zeichen in sich haben.
„Big Brother“ könnte man als eine Antwort auf den Wunsch vieler Menschen verstehen, Autor ihres Lebens sein zu wollen. Dass sie bei „Big Brother“ dann doch wie Marionetten funktionieren sollen, ist eine andere, auch wichtige Geschichte. Aber das Entscheidende wäre der Autorenimpuls?
Man kann ihn sogar authentisch nennen, auf eine begrenzte, prekäre Weise. Insofern täuschen sich die Zuschauer nicht. Es ist intelligent, dieses Zuschauerinteresse aufzugreifen.
Kommen wir jetzt noch mal explizit zu den Gefühlen. Was sind Gefühle?
Gefühle haben ihre Grundlage in Empfindungen. Also das ist mir zu kalt, das ist mir zu heiß, ich bin ein Lebewesen von 37 Grad Körpertemperatur. Ich bin gefüllt mit solchen Gefühlen, die ich gar nicht wahrnehme. Das ist mein Unterscheidungsvermögen. Wenn wir dieses Unterscheidungsvermögen auf einen anderen Menschen richten, dann nennen wir es Gefühl. Das ist nichts Sentimentales. Es unterlag im 19. Jahrhundert der Sentimentalisierung und Kommerzialisierung. Es ist das, was der Mensch zu einem objektiven Verhältnis hinzutut. Es regnet, ich werde nass und dabei empfinde ich etwas. Es kann Glück sein, im Regenwasser einer Tonne zu baden ist etwas Schönes. Es kann Unglück sein, wenn ich anfange zu frieren. Dieses Unterscheidungsvermögen interessiert mich. Es ist unser eigentliches Eigentum. Da müssen wir von Zeit zu Zeit Inventur machen. Wir müssen es auf seine Brauchbarkeit fürs Gemeinwesen testen. Führt es uns zusammen oder trennt es uns? Führt es zu freiwilligen Taten oder zu Gehorsam?
Also bedeutet kein Gefühl immer das Gleiche?
Sind so genannte schlechte Eigenschaften, wie Trägheit und Langsamkeit, wirklich nur schlecht? Sind sie nicht auch Transportmittel, die mehr Verständigung und mehr freiwillige Taten produzieren können? Wir sollten unsere Fehler von Zeit zu Zeit daraufhin prüfen, welche Mutationen darin stecken, vielleicht von der Art: Durch Irrtum bin ich ein guter Mensch geworden. In meiner „Chronik der Gefühle“ steht die Geschichte „Der getreue Taschendieb“: Als es mit Kaiser Maximilian in Mexiko zu Ende ging, sollte der Kronschatz nach Wien in Sicherheit gebracht werden. Durch ein Versehen übergibt der Hofbeamte ihn einem Taschendieb. Der ist darüber so überrascht, für ehrlich gehalten zu werden , dass er – obwohl er keine europäische Sprache spricht – die Schatztruhe über den Ozean nach Wien bringt und sie an der Hofburg abgibt. Dann verschwindet er. Solche Loyalitäten gibt es in der Menschheit oft. Mit guten Eigenschaften allein können wir kein Gemeinwesen bilden. Sie bleiben im Ernstfall in der Minderheit. Am Sonntag und bei schönem Wetter mögen sie reichen. Wenn es so ist, müssen wir all die schlechten Eigenschaften mit auf den Prüfstand stellen. Es müssen mehr menschliche Eigenschaften herhalten, um ein Gemeinwesen zu bilden.
Irrtümer, das Böse, die ganze Nachtseite, das alles ist ja wesentlich für die Freiheit, zu handeln und Neuanfänge zu wagen. Wenn alles schon gut wäre, müsste man ja mit dem Leben gar nicht erst beginnen. Weil etwas dazwischenkommt, haben wir die Chance, etwas daraus zu machen. Wenn etwas misslingt, entstehen neue Optionen für ein anderes Gelingen, von dem wir uns sonst nichts hätten träumen lassen. Um das zu erfassen, muss man die brave Trennung in Gut und Böse durchlöchern. Aber wie?
Andere Lebewesen, wie Fledermäuse, machen daraus ein Prinzip. Diese laut schnatternden Nachttiere haben zwei verschiedene Ohren, noch ein Ohr im Ohr. Sie hören das laute Schnattern und sie hören das leise Echo, das von der Wand, gegen die sie nicht prallen wollen, zurückkommt. Dieses Echolotverfahren haben wir Menschen auch. Es ist umfassend und lässt sich nicht in Gut und Böse einteilen.
Also etwas, das nichts als böse ist, rein Böses?
Dem bin ich nie begegnet. Obwohl ich böses Verhalten in konkreten Situationen beobachtet habe. Ich will nicht blauäugig erscheinen. Aber der Satz von Montaigne „Das Böse ist nur ein verirrtes Gutes“ hat sehr viel Plausibilität. Wenn mich einer zusammenschlägt, nutzt mir natürlich so eine Analyse nichts. Dann muss ich mich wehren. Aber wenn Sie es analytisch auflösen, können Sie so eine Theorie, es gibt das Böse und ich muss es völlig ausgrenzen, nicht aufrechterhalten.
Vielleicht ist das ja der Irrtum der Reduktionen, filmisch gesprochen, des Standbildes. Es geht vielmehr darum, Bilder in Bewegung zu setzen, Abläufe zu beobachten und sich einzufühlen. Insofern hat der Film eine moralische Dimension.
Heiner Müller, der mich ja sehr beeinflusst hat, hat immer darauf beharrt, dass die Aufgabe des Autors die Einfühlung ist. Es ist nicht seine Aufgabe zu richten. Ich muss einen Nazi beschreiben können, wenn ich ihn widerlegen will. Sie können Political Correctness und die Tätigkeit des Autors nicht zur Deckung bringen. Ein Film, den ich gemacht habe, heißt „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“. Die Gegenwart kann Imperialist sein und Zukunft löschen. Sie kann auch, beinahe noch schlimmer, den Konjunktiv, die Möglichkeitsform und den Möglichkeitssinn sabotieren. Wir können ja im Deutschen den Konjunktiv fast gar nicht mehr gebrauchen, wir umschreiben ihn mit würde, „ich würde wollen“. Die Griechen hatten als grammatische Form noch eine Wunschform, den Optativ, die kennen wir gar nicht. Die Russen haben sie auch. Wir müssen die Grammatik der Erfahrungen immer wieder neu dehnen. Dieser Muskel muss geübt werden. Und einer der wichtigsten Muskeln heißt: Ich muss mich dem, was ich wahrnehme, anvertrauen.
Vertrauen ist noch ein Zeichen, das wie ein Notenschlüssel vor den klugeschen Partituren steht. Es wird, wie die Gefühle, verdächtigt, eine schwächliche, nicht zeitgemäße, dem Überleben und dem alltäglichen Kampf nicht angemessene Form zu sein. Sie sagen aber, Vertrauen sei das Entscheidende.
Das Urvertrauen ist ja den Lebewesen mitgegeben, die in der Evolution übrig geblieben sind. Es scheint ein sehr vorteilhafter Schatz zu sein. Wir können es bei den Kindern in den ersten Lebenstagen sehen. Sie vertrauen den Gesichtern, die ihnen begegnen. Sie glauben, dass es die Welt gut mit ihnen meint. Von diesem Schatz leben wir, der wird nie ganz abgebaut. Natürlich ist Vertrauen in anderer Sicht ein Irrtum. Verdun, ein Luftangriff, auch die globalisierte Welt, das ist ja alles nicht freundlich zu den Menschen, ist gar nicht für sie gedacht. Trotzdem hält sich das Urvertrauen. Sie können auch Generosität dazu sagen, Potlatsch sagt Marcel Mauss, der französische Strukturalist, Verschwendung.
Das hat er von den Indianern?
Das hat er von Indianern, bei denen Verschwendungsfeste Autorität befestigen. Ich vertraue dem Häuptling, der verschwenderisch auftritt. Dieses Verschwenderische hat das Leben selbst. Wir verfügen über mehr Eigenschaften, als wir gebrauchen. Welche Verschwendung hält unser Hirn bereit?
Menschen sind aufgrund ihrer Unvollkommenheit, als zu früh geboren und nicht zu Ende Entwickelte, Möglichkeitstiere. Sie sprachen eben vom Verschwinden des Konjunktivs. Manchmal könnte man denken, es gewinnt ein terroristischer Indikativ, nur eine Möglichkeit soll gelten. Wo sehen Sie eigentlich Bündnispartner für eine Renaissance des Möglichkeitstiers?
Im Gespräch. Alle Menschen schwatzen. In diesem keltischen Reden, im Geschichtenerzählen, steckt ein Gegenpol. Da gilt Vielstimmigkeit. Die Musik ist ein zweiter Verbündeter. Sie können ein Gemeinwesen auf ein Musikstück gründen, auf Beethovens „Lied an die Freude“ oder auf „Nabucco“, den Freiheitschor von Verdi. Es gibt viele Bündnissysteme. Aber sie funktionieren nicht durch öffentliche Paraden, nicht in Uniformen. Sie funktionieren nur unter Partisanen, also unter Brüdern.
Partisan, was heißt das für Sie?
Ein parteilicher Mensch. Das ist die wörtliche Übersetzung. Ein Parteigänger hat eine Meinung. Im Grunde können Sie die Wörter Partisan und Autor austauschen. Stellen Sie sich Asterix vor, wie er mit seinen Leuten beim Wildschweinbraten sitzt. Das sind Vertrauensverhältnisse. Sie haben ihr Land. Sie haben ihr eigenes Unterscheidungsvermögen und lassen es sich von den Römern nicht nehmen. Die Römer, das sind heute die großen globalisierten Companies, die uns die Verantwortung abnehmen wollen. Da sagen wir Gallier, nein, das machen wir selber, wir werden keine Römer.
Asterix ist also ein großer zeitgemäßer Mythos?
Das kann man wohl sagen. Ein zweitausend Jahre alter zeitgemäßer Mythos.
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