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mauerbauDas Schweigen der Intelligenz

Vergessen wir die Kollektiventschuldigungen, in denen sich zum Jahrestag des Mauerbaus führende PolitikerInnen der PDS üben. Sie kosten nichts, sie bringen nichts ein, nicht einmal den CDU-Bußpredigern. Die CDU wird keinen Funken schlagen können aus der Forderung nach Entschuldigung. Weder die Bußfertigen aus dem PDS-Lager noch die Renitenten werden ihr zu Stimmen bei der Berliner Wahl verhelfen. Entschuldigung lebt von individueller Schuldübernahme. Kollektivschuldbekenntnisse führen zu nichts, vor allem nicht zur Einsicht.

Kommentarvon CHRISTIAN SEMLER

Zu Zeiten des Realsozialismus übte man sich in Kritik und Selbstkritik. Das war ein religiöses Ritual der Reinigung, hatte aber einen rationalen Kern: die Ursachenforschung. Statt sich zu entschuldigen, sollten sich gerade diejenigen, die schon in den 60er-Jahren für demokratische Reformen in der DDR eintraten, fragen, warum sie seinerzeit dem Mauerbau zustimmten. Warum rechtfertigte selbst ein so humanes und differenziertes Werk wie Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“ die Inhumanität des „Friedenswalls“? Warum glaubten so viele forschrittliche Menschen an die These, der Bau der Mauer werde die DDR vom Druck des „westdeutschen Imperialismus“ entlasten, werde die Potenziale des Sozialismus auf deutschem Boden zur Entfaltung bringen, werde nach der „Störfreimachung“ zu demokratisch-sozialistischen Verhältnissen führen?

Christa Wolf und viele andere, die damals so dachten, begruben nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag 1968 ihre Hoffnungen auf einen authentischen demokratischen Sozialismus „ in den Farben der DDR“, und viele von ihnen wurden später zu Vorkämpfern der demokratischen Opposition. Aber bis heute sucht man vergeblich nach einer intellektuellen Selbsterforschung der Motive, die damals so viele Intellektuelle nicht aus Anpassung und Statusängsten, sondern aus ehrlicher Überzeugung zu Verteidigern der Mauer werden ließ. War diese Haltung nicht Ausdruck des tiefen Misstrauens gegenüber den DDR-Deutschen? Schwang vielfach nicht die Idee einer wohlmeinenden Erziegungsdiktatur mit, ein Präzeptorentum, zu dem sich Intellektuelle seit jeher berufen fühlen?

Und sind diese Haltungen heute wirklich überwunden? Solche Fragen sind bekanntlich nicht auf die DDR-Einwohner beschränkt. Sie betreffen den Kern des Selbstverständnisses vom Sozialismus, nicht nur nach dem 13. August 1961.

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