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Sie sind da. Irgendwo.

Das unbekannte Wesen vor unserer Küste: Der Schweinswal steht vor dem Aussterben. Forscher und Naturschützer wollen Flippers kleinen Vetter retten  ■ Von Sven-Michael Veit

„Da vorne ist einer“,

ruft er. Der Mann muss geschulte Augen haben. Wo? „Hundert Meter, Steuerbord“, antwortet Hans-Ulrich Rösner. Oder er hat das bessere Fernglas. „Und noch zwei an Backbord.“ Oder beides. Der Lautsprecher knackt: „Zwei Schweinswale achtern Backbord“, meldet der Kapitän. Tatsächlich. Zwei stumpfe Rückenflossen tauchen für ein, zwei Sekunden aus der Nordsee auf, fünf oder sechs Mal, dann sind sie wieder weg. Biologe Rösner, Projektleiter Wattenmeer beim World Wide Fund for Nature (WWF), strahlt. Seht ihr, so ist in seinen Augen zu lesen, wir haben euch nicht zu viel versprochen, es gibt sie wirklich.

Schon seit zwei Stunden dampft die „MYA“, das Forschungsschiff des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts für Meeresforschung, vor der Küste von Sylt entlang. Nicht einer der scheuen Delphine hatte sich bislang sehen lassen. Zwei Stunden, in denen die Experten von WWF und Schutzstation Wattenmeer neun geladenen JournalistInnen aus ganz Deutschland das Schicksal der Schweinswale nahezubringen versuchen. Denn vermutlich Zehntausende leben hier vor der nordfriesischen Küste, und vor den Inseln Sylt und Amrum, hier in der Wal-Schutzzone des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, ist ihre Kinderstube.

In den Mündungen von Elbe, Eider und selbst Trave tummelten sie sich noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts; jetzt existieren weniger als 170.000 der Kleinen Tümmler in der Nordsee, in der Ostsee sind es nur noch wenige Hundert. Seit Jahrzehnten stehen sie unter Schutz, und dennoch nimmt ihre Zahl beständig ab. Tausende ertrinken Jahr für Jahr in Fischernetzen – viel mehr, als geboren werden. Aber auch das ist nur eine Vermutung, denn Flippers kleiner Vetter, der einzige in deutschen Gewässern heimische Wal, ist selbst für Meeresbiologen ein weitgehend unbekanntes Wesen.

Einen Meter fünfzig ist Freija

lang und einen Zentner schwer, Eigil ist zehn Zentimenter kürzer und zehn Kilo leichter. Die beiden Schweinswale sind die Stars des „Fjord&Bælt Centret“ im dänischen Fischerstädtchen Kerteminde am Großen Belt. Unablässig drehen sie ihre Runden in dem großen Außenbecken, das vom Fjord nur durch Netze abgetrennt ist.

Über ihnen, auf einem Balkon im zweiten Stock, sitzt eine junge Frau im Bikini und macht sich Notizen, eine von drei Bio-StudentInnen der nahen Universität Odense. In welchem Rhythmus tauchen Freija und Eigil, wie häufig schwimmen sie von rechts nach und links und umgekehrt, wann und wie lange schlafen sie und wie oft paaren sie sich? Vier Wochen lang, Tag und Nacht, in Vier-Stunden-Schichten werden Freija und Eigil keine Minute aus den Augen gelassen. „Wir sind nicht nur ein Aquarium“, betont Jacob, selbst Bio-Student mit halber Stelle als Öffentlichkeitsarbeiter, „wir forschen.“

Sieben Jahre etwa sind die beiden Schweinswale alt, seit vier Jahren, seit sie im Belt am selben Tag aus demselben Netz vor dem Tod gerettet wurden, leben sie in Europas einziger Schweinswal-Forschungsstation. Sie sind ausgewachsen und im besten Alter, sagt Projektleiterin Kristin Anderson, aber Nachwuchs sei nicht in Sicht, obwohl die beiden zwischen Mai und Oktober es mehrmals täglich tun. Noch nie wurde ein Schweinswal in Gefangenschaft geboren, und für das „Fjord&Bælt Centret“, eine gemeinnützige Stiftung, wäre ein Delphinbaby sicher ein Publikumsmagnet. Aber eigentlich, sagt Anderson, „ist das nebensächlich“.

Wichtiger sind ihr

und ihrem Team Antworten auf die vielen Fragen, die sie an Freija und Eigil haben. Die wichtigste: Wie sind Schweinswale vor den kilometerlangen Stellnetzen zu warnen? Die Kleinwale können diese weder sehen noch mit ihrem Sonarsystem orten, umso besser aber die darin zappelnden Heringe, Kabeljaus oder Schollen. Statt leichte Beute zu machen, verheddern sich die Meeressäuger in den Maschen und sterben nach minutenlangem Todeskampf.

Mit so genannten Pingern wird in Kerteminde experimentiert, kleinen Zylindern, die leicht an Netzen anzubringen sind und Töne von sich geben, die Schweinswale abschre-cken sollen. Bloß: Welche Töne, in welchem Takt, in welcher Lautstärke, in welchem Frequenzbereich? Die Kleinen Tümmler sollen ja nicht aus großem Umkreis vertrieben werden. Und welche Auswirkungen haben Pinger auf die Beute, die auch die Fischer machen wollen? „Wenn die Fänge nur um fünf oder zehn Prozent zurückgehen“, da machen Kristin und Jacob sich keine Illusionen, „ist das gegen die Fischindus-trie nicht durchzusetzen“.

Bislang haben Freija und Eigil erst eine Antwort gegeben, die die Forscher so viel klüger aber nicht gemacht hat. Zuerst flüchteten sie vor jedem Motorboot, das draußen im Fjord vorbeituckerte, in die hinterste Ecke ihres Beckens; inzwischen aber, zuckt Kristin die Schultern, „ignorieren sie auch große Schiffe vollständig“. Würden Schweinswale sich auch an die Pinger gewöhnen, müssten die Forscher nach ein paar Jahren wieder von vorne anfangen.

Niemand hier habe was

gegen die Schweinswale, beteuert Helge Jansen. „Die sind eben da, und die Leute hier haben sich mit dem Schutzgebiet arrangiert“, meint der Vorsitzende des Landschaftsschutzverbandes Sylt zu wissen. Die Identifikation mit dem Walschutz aber, die wachse nur langsam, schließlich bekäme man die scheuen Säuger kaum zu Gesicht, sagt Jansen und weist vom Biergarten des Westerländer Dünenrestaurants runter zum Strand. Hunderte Urlauber tummeln sich im Wasser, aber kein Wal weit und breit. Obwohl, das weiß auch Jansen, „sie sind da. Irgendwo“.

„Die Leute“, räumt auch Walexperte Lothar Koch von der Schutzstation Wattenmeer ein, „schützen nur, was sie kennen“. Whalewatching-Touren mit Schweinswal-Garantie, das wäre eine Attraktion, das wäre Öko-Tourismus, das wäre wirtschaftlich interessant für die Sylter, das könnte vermarktet werden, damit könnte die Insel werben. Dumm nur, dass die Kleinen Tümmler nicht mitspielen.

Dennoch sollte Sylt mehr tun, findet wie Koch auch Thomas Borchert vom Nationalparkamt, um die Delphine bekannter und „Natur erlebbar zu machen“: Infos für die Urlauber, Schautafeln an der Küs-te, auch ein Informationszentrum wäre schön. Findet Jansen zwar ebenfalls, aber das sei Aufgabe der rot-grünen Landesregierung an der Ostküste. Die wollte den Nationalpark hier im Watt, die wollte das Wal-Schutzgebiet, die müsse sich jetzt gefälligst auch um die Schweinswale kümmern. „Aber wenn es denen nicht der Mühe wert ist“, schulterzuckt Jansen, „dann können wir es auch lassen.“

„Da vorne ist einer“, unterbricht ihn Borchert. Wo? „Fünfzig Meter vorm Strand, links von den drei Schwimmern.“ Noch so einer mit geschulten Augen.

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