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Sprengstoff im Geschichtsunterricht

In Deutschland splittet sich das Geschichtsbild ethnisch auf. Denn vielen Migranten fehlt das historische Wissen über Nationalsozialismus und Holocaust. Die Bildungspolitik hat die multikulturelle Realität in den Klassenzimmern bislang ignoriert

von NICOLE MASCHLER

Die Fronten verliefen quer durch die Klasse. Bei einem Besuch der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main hatten mehrere Schüler Neonaziparolen ins Gästebuch geschmiert. Mitschüler, junge Migranten aus der Türkei, beschimpften die Gruppe ihrerseits als „Rassisten“ und „Nazis“, erinnert sich Bildungsreferent Bernd Fechler in dem Buch „ ‚Erziehung nach Auschwitz‘ in der multikulturellen Gesellschaft“.

Im Einwanderungsland Deutschland erhält der Geschichtsunterricht zum Nationalsozialismus neue Brisanz: Junge Migranten, deren Herkunftsland keine nationalsozialistische Vergangenheit hat, wachsen auf in einer Gesellschaft, in der die Erinnerung an die Vernichtung der Juden tief verankert ist.

Doch bislang ignorieren Bildungspolitiker die neue Realität in deutschen Klassenzimmern. Dabei hat inzwischen jeder neunte Schüler einen ausländischen Pass. Hinzu kommen Kinder aus eingebürgerten und binationalen Familien sowie junge Spätaussiedler. Fast jeder dritte Jugendliche in der Bundesrepublik wächst mit einem „nichtdeutschen“ Hintergrund auf.

Viele türkische, griechische oder italienische Familien können sich der deutschen Schuld-Gemeinschaft, der „Tätergesellschaft“, nicht zuordnen. Sie identifizieren sich eher mit den Verfolgten – definieren sie sich doch unabhängig vom Pass selbst als „Ausländer“ und werden auch als solche betrachtet. „Sie vergleichen ihre Lebenssituation häufig mit dem, was sie bruchstückhaft vom Nationalsozialismus mitbekommen haben“, sagt Sanem Kleff, Vorsitzende des Bundesausschusses Multikulturelle Angelegenheiten der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

Herkunft, Nähe oder Distanz zu den historischen Ereignissen wirken sich auf die Haltung zu Nationalsozialismus und Holocaust aus. Die Folge: Im Einwanderungsland Deutschland splittet sich das Geschichtsbild ethnisch auf. Doch die Pädagogen reagieren hilflos. Denn in Unterrichtsplänen und bei der Lehrerausbildung spiegelt sich die multikulturelle Realität bislang kaum wider. Kein Wunder, glaubt Verena Radkau vom Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Eine umfassende Bestandsaufnahme des Geschichtsunterrichts zählt zu den unerledigten Hausaufgaben der Bildungspolitik. Wie die Schüler das Thema Auschwitz verarbeiteten, so Radkau, „darüber gibt es kaum empirische Studien“.

Die Frage wäre sicherlich früher in den Blick gerückt, besuchten Migranten nicht vor allem Schulformen, in denen geregelter politisch-historischer Unterricht kaum noch stattfindet. Während 1998 rund 19 Prozent überhaupt keine Ausbildung bzw. 43 Prozent mit der Hauptschule abgeschlossen hatten, waren unter den Abiturienten nur knapp 10 Prozent Migranten.

Der monokulturelle Blick auf die Historie hat Tradition: Seit dem späten 18. Jahrhundert staatlich organisiert, sollte die Geschichtsstunde helfen, aus Hannoveranern und Stuttgartern Deutsche zu machen. Doch ein Einwanderungsland wie die Bundesrepublik sollte über den Tellerrand blicken.

Bisher haben Bildungspolitiker nur zaghafte Schritte unternomker nur zaghafte Schritte unternommen. „Insbesondere die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer können thematisch und methodisch einen Beitrag zur interkulturellen Bildung und Erziehung leisten“, mahnten die Kultusminister der Länder 1996. Die GEW hatte ein Jahr zuvor zwar die „Leitfragen zur Bildungsdiskussion“ formuliert („Wie muss das Bildungswesen sich ändern, damit es human und der Aufklärung verpflichtet mit der Tatsache umgehen kann, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und ein Land, in dem Menschen aus aller Welt Zuflucht suchen?“). Aber geht es um das Thema NS-Zeit im Unterricht, tut sich der Lehrerverband mit einer Antwort schwer.

Angesichts der heterogenen Schülerschaft greife der Appell an die Verantwortung für die „eigene Geschichte“ zu kurz, weiß auch GEW-Vertreterin Kleff. Doch was die Gewerkschaft vorschlägt, klingt nur allzu bekannt. Wichtig sei ein emotionaler Bezug zur Lebenswirklichkeit der Jugendlichen, so Kleff. Wie war das damals an unserer Schule? Wo wohnten die jüdischen Mitschüler? Was erlebten sie?

Spurensuche auch in den Herkunftsländern der Schüler regt dagegen Angelika Rieber, Lehrerin an der Ernst-Reuter-Schule in Frankfurt am Main, an. Wie haben sich diese Nationen während der Nazizeit verhalten? Auch wenn die jungen Migranten nicht selbst aus „Opferfamilien“ stammen, seien doch die meisten Herkunftsländer auf unterschiedliche Weise von den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs tangiert. Es biete sich daher an, die Darstellung des Krieges in den Schulbüchern der jeweiligen Länder zu betrachten.

Auf die Bedeutung von Vergleichen mit anderen Genoziden wie dem ersten Völkermord der Jungtürken an den Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts weist der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik hin – „und sei es nur, um bei jenen SchülerInnen, die aus anderen Bezügen kommen, ein vertieftes Verständnis für die Problematik von Genozid und Menschenrechtsverletzungen zu wecken“.

Pädagogische Orientierung könnten die USA geben, wo die Vermittlung von Wissen über den Holocaust am weitesten fortgeschritten ist. Die Shoah ist dort auch im Bewusstsein der Latein- und Afroamerikaner. Auschwitz als Metapher des Bösen. Doch das Bemühen um Aktualität führe leicht zu problematischen Vergleichen, warnen Kritiker. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus dürfe nicht für das Lernziel Multikulturalität funktionalisiert werden.

Bernd Fechler u. a. (Hrg.): „Erziehung nach Auschwitz in der multikulturellen Gesellschaft“. Juventa Verlag, Weinheim 2000, 320 Seiten, 34,80 DM

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