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Der Zwang zum Mehr sitzt tief

Weil Wachstum und Kapitalismus nah verwandt sind, haben es Gegenstrategien schwer. Viel von einst engagierter Kritik ist nur noch müde Erinnerung

von HANNES KOCH

Die Sätze klingen beschwörend. Während die Konjunktur einbricht, klammern sich Politiker und Ökonomen aller Couleur an die Hoffnung, dass es bald wieder aufwärts gehe. „Dennoch glaube ich unverändert, dass sich das Wachstum in Deutschland wieder beschleunigen wird“, sagte Bundeswirtschaftsminister Werner Müller erst gestern.

Erklärungen wie diese haben zur Zeit eher religiösen Charakter. Sie bauen darauf, dass der Gott des Marktes alles zum Guten wenden werde. Von Fakten gedeckt ist die Gesundbeterei kaum. Im Gegenteil: Innerhalb weniger Monate zwischen Winter 2000 und Frühjahr 2001 ist die westliche Welt von einem Wirtschaftsboom in eine heftige Depression gerutscht. Für Deutschland stellt die Bundesbank jetzt fest: „Es herrscht Stagnation.“ In anderen Ländern wie den USA, Italien und den Niederlanden sieht es ähnlich aus. Firmen brechen zusammen, zehntausende Beschäftigte verlieren ihre Jobs, Börsenbarometer wie der Dax markieren immer neue Tiefststände. Gestern korrigierten die Banken ihre Konjunkturprognose für Deutschland: Dieses Jahr sei nur noch mit einem Wachstum von 1 bis 1,5 Prozent zu rechnen.

Je weiter die örtlichen Phänomene sich zu einer globalen Krise verstärken, desto eindringlicher fallen die Wachstumsbeschwörungen aus. Glaubt man den meisten Politikern, sind die hoch entwickelten Wirtschaftsnationen gar nicht in der Lage zu überleben, ohne dass die Produktion permanent steigt. Wirtschaftswachstum ist ein Tabu – in den meisten Debatten wird seine Notwendigkeit vorausgesetzt.

Das war einmal anders. In den 70er-Jahren thematisierten Bürgerinitiativen und Linke erstmals die umweltzerstörende Kraft eines Systems, das in eine endliche Welt einen unendlich anschwellenden Warenstrom hineinproduziert. Im legendären Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972 beschrieben internationale Wissenschaftler des Club of Rome, dass die Strategie des ewigen Mehr schließlich in sich zusammenbrechen müsse. Unter anderem die deutschen Grünen transportierten diese Gedanken in die Parlamente. Im Wirtschaftsprogramm von 1986 erklärten sie: „Wachstum als möglichst hoher Warenausstoß gilt nicht länger als wirtschaftliches Ziel.“

Heute ist davon nur eine müde Erinnerung geblieben. Im Entwurf für das neue grüne Grundsatzprogramm heißt es nur, das Bruttosozialprodukt gelte „nicht mehr allein als Maßstab des Wohlstands“. In der Tagespolitik akzeptieren die Grünen die vermeintliche Notwendigkeit, das Bruttoinlandsprodukt – den Wert aller innerhalb der deutschen Grenzen hergestellten Waren und Dienstleistungen – jährlich um zwei oder drei Prozent zu erhöhen.

Der Zwang zum Mehr wurzelt tief. Einmal hängen Kapitalismus und Wachstum zwar nicht naturgegeben zusammen, sind aber doch nah verwandt. Ihr Ziel, die Steigerung des Profits, können Unternehmen erreichen, indem sie die Menge der verkauften Produkte erhöhen oder neue Waren erfinden. Es gibt zwar auch andere Möglichkeiten, Gewinne zu steigern – Preis- oderProduktivitätssteigerung, sinkende Kapitalkosten – doch die Ausweitung des Marktes ist ein beliebter Mechanismus.

Zweitens genießt der Wachstumszwang hier zu Lande Gesetzesrang. „Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie [...] zu einem stetigen und angemessenen Wirtschaftswachstum beitragen“, heißt es im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums von 1967. Im Sinne der sozialen Marktwirtschaft soll die Bevölkerung angemessen am zunehmenden Wohlstand beteiligt werden. Dies fällt leichter, wenn der zu verteilende Kuchen jedes Jahr größer wird.

Zudem dient die Arbeitslosigkeit als Rechtfertigung für die Produktionssteigerung: Unter anderem durch den technischen Fortschritt können Unternehmen ja jedes Jahr mit weniger Beschäftigten die gleiche Warenmenge ausstoßen. Weniger Menschen fänden Arbeit, wenn nicht zusätzliche Fabriken und Büros mehr Güter verkaufen könnten.

Wer diese Strategie ablehnt, muss entweder die Beschäftigten oder die Unternehmer zum Verzicht überreden – ein gesellschaftlicher Konsens würde zerbrechen. Unter anderem deshalb hat die Debatte spätestens seit Beginn der 90er-Jahre eine andere Richtung genommen. Im Umkreis des Umweltgipfels von Rio de Janeiro 1992 rückte der Begriff der „Nachhaltigkeit“ in den Vordergrund, und mit ihm die Hoffnung, den Naturverbrauch vom Wirtschaftswachstum zu „entkoppeln“. Die Zunahme der Produktion sei nicht so schlimm, so das Argument, wenn die Umwelt weniger belastet werde. In einigen Bereichen beginnen sich die Hoffnungen zu erfüllen. So sank der Energieverbrauch in Deutschland in den vergangenen Jahren, obwohl die Wirtschaft wuchs.

Fraglich erscheint allerdings, ob die Entkopplung in weltweitem Maßstab gelingt. Um der gesamten Menschheit einen den deutschen Verhältnissen vergleichbaren Lebensstandard zu ermöglichen, ohne die Umwelt zusätzlich zu schädigen, müsste der Ressourceneinsatz um mehr als die Hälfte sinken.

Wer das als unrealistisch betrachtet, steht wieder am Ausgangspunkt: Muss man den quantitativen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts zumindest bremsen, und wenn ja, wie? Der Exgewerkschafter und Wachstumskritiker Rüdiger Kalupner ist einer der wenigen, die versuchen, die Stellschraube zu finden. Er plädiert für eine radikale Steuerreform: Die Arbeit müsse entlastet, der Einsatz von Maschinen und Kapital hingegen belastet werden. Das könnte den Anstieg der Produktivität und die Zunahme der Produktion verlangsamen. Dieser Schritt in eine Gesellschaft jenseits der Wachstumsideologie freilich wird weder dem Bund der Deutschen Industrie, noch dem Deutschen Gewerkschaftsbund gefallen.

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