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Die Bewegung gegen den totalen Weltmarkt braucht intellektuelle Reputation –auch um das Blockdenken in der Globalisierungsfrage zu überwinden

Wir brauchen eine Art globales Vorparlament zwischen den Freihändlern undden Demonstranten

Was fangen die öffentlichen Denker mit der „neuen, erstmals wirklich internationalen Protestgeneration“ an, was mit der grundstürzenden Spiegel-Sommerloch-Titel-Frage „Wem gehört die Welt?“? Gemessen an der Zahl der Zeilen, die sich mit der Polizei beschäftigen: überraschend wenig Strategisches.

In der taz schreibt Micha Brumlik über die Forderung nach einer globalen Spekulationssteuer lakonisch: „Praktikabel. Aber absolut chancenlos.“ Susan George bejubelt in Le Monde diplomatique die Zunahme der Demonstrantenzahlen nach der Logik: Wir werden immer mehr, und der Widerstand der Herrschenden macht uns noch stärker – einen Weg, Politik wieder in Kraft zu setzen, beschreibt sie nicht. Elke Schmitter schließlich sucht im Spiegel nach weniger gewaltsamen und dabei witzig-wirksameren Methoden, „Öffentlichkeit herzustellen“.

Öffentlichkeit herstellen – genau da liegt das Problem. Die Waffe der symbolischen Provokation à la aufblasbare Steueroasen auf der Alster wirkt nicht, wenn die Verbindung zwischen öffentlicher Meinung und Politik nicht mehr funktioniert. Ich meine damit nicht allein die Verzerrungen der Öffentlichkeit durch die Privatisierung der Medien, die Hegemonie der finanzstarken Konzerne über die Berichterstattung und die systematische Privilegierung des ökonomischen Mainstreams in der Wirtschaftspresse.

Es geht um mehr. Die Weltöffentlichkeit ist zunehmend gespalten in zwei Arenen: In der ersten jubeln Weltbankökonomen, liberale Politiker und ihre Fußtruppen vom Wachstum, das auch den Ärmsten zugute komme. Hier sind die Ressourcen der Weltgestaltung konzentriert: Eigentum, Geld, Macht, Wissen. In der zweiten Arena treten Gewerkschafter, Landlose, Ökologen, die Sprecher von Nichtregierungsorganisationen und gefeuerte Weltbankökonomen auf und fordern politische Maßnahmen gegen den „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt). Ihre Ressourcen sind das moralische Argument und die alte europäische Idee des Primats der Politik. Die beiden Arenen berühren sich nicht. Jede hat ihr Publikum – und ihre Intellektuellen.

Öffentlichkeit zu schaffen bedeutet heute nicht länger nur, mit höchst begrenzten Folgen Missstände und Forderungen zu publizieren – sondern eine neue Sphäre der intellektuellen Öffentlichkeit zu konstruieren. Solange es keinen Ort gibt, an dem die Akteure der beiden Arenen sich gleichberechtigt und verbindlich begegnen, werden sich ihre beiden Welten nur in der Konfrontation von „Globalisierungstreibern“ und „Globalisierungsgegnern“ berühren. Das ist unfruchtbar und gewalthaltig. Im Alltag der Globalisierung halten die Fraktionen im intellektuellen Weltbürgerkrieg ihre Meetings getrennt ab: in Davos und Porto Alegre. Und jede der ungleich starken Seiten hat ihre Medien, ihre Wissenschaftler, ihre Weltmodelle, ihre Szenarien, ihre Moral.

Die Situation ist vergleichbar mit der zu Anfang der Neuzeit in der Mitte Europas. Der Kampf zwischen regionalen Souveränitäten und der entstehenden nationalen Zentralgewalt war überlagert von religiösen Kämpfen um die „richtige“ Deutung der Welt und des Kosmos. Zwei Parteien mit einander ausschließenden Werten und Weltdeutungen standen einander gegenüber. Die Kämpfe waren wirr, blutig und dauerten zweihundert Jahre. In ihrer Mitte spielte eine Gruppe von Gelehrten, Humanisten, Kritikern, kurz: Intellektuellen eine Rolle. Man nannte sie, sie nannten sich: „les politiques“. Das war damals ein neues Wort. Sie entwickelten eine Form, in der die einander ausschließenden Geltungsansprüche versöhnbar waren: den rechtsförmigen Nationalstaat, der über das Gewaltmonopol, die Steuersouveränität und die Infrastruktur der Gesellschaft verfügte. Die Idee war erfolgreich.

Könnten Intellektuelle am Ende dieser Neuzeit eine ähnliche Rolle spielen? Wenig sieht danach aus. Aber wer sonst? „Wir gehen auf ein halbes Jahrhundert Unordnung zu“, sagte der Weltmarkthistoriker Wallerstein nach dem Ende des Kalten Krieges, und er fügte hinzu: „In dieser Situation werden die Intellektuellen die Rolle der Utopisten spielen müssen.“ Sie sollten keine Angst vor großen, ja utopischen Zielen haben; selbst der politische Liberalismus braucht sie, sonst erstarrt er zur kalten Maschine. Der Nationalstaat, der Völkerbund, der Achtstundentag wurden Jahrzehnte, Jahrhunderte gedacht, bevor sie Wirklichkeit wurden. Aber als Ziel gaben sie Menschen Motive, Politik zu machen, Intellektuelle gaben dem Protest Bilder und Begriffe und der Politik Polarsterne.

Anders als kürzlich noch träten die Intellektuellen heute nicht in den Dienst „der Partei“. Zwischen den Fronten, inmitten der Unordnung, wären sie durch nichts legitimiert als durch ihre persönliche Autorität und die Kraft ihrer Vorschläge – dabei helfen Nobelpreise ebenso sehr wie poetische Kraft. Und am Abend Manu Chao.

Öffentlichkeit herstellen – das heißt heute: eine dritte Arena zu öffnen, eine Art globales Vorparlament zu bilden zwischen der mediengepanzerten Welt der Freihändler und dem moralischen Protest auf den Straßen. Und, nicht zuletzt, einen wirklichen Universalismus dem Globalismus der USA entgegenzusetzen, die alle tendenziell universalistischen Institutionen beherrschen, von der UNO über den Internationalen Gerichtshof bis zum Internet und der Filmindustrie. Unter dem Ansturm der Freihändler ist eine Weltöffentlichkeit besorgter Eliten in den Hintergrund getreten (Global 2000, Club of Rome). Nun also Attac – wachsend, aber bislang ohne große Namen und starke Stimmen. Ohne die ging es noch nie, in der Blackbox der Medienwelt erst recht nicht, und der globale „Kirchentag“ in Porto Alegre könnte neben sich ein „Konzil“ von Reputierten vertragen, das mit ganz anderem Gewicht kontinuierlich das Notwendige auf die Tagesordnung brächte.

Symbolik wirkt nicht, wenn die Verbindung zwischen öffentlicher Meinung und Politik nicht funktioniert

Man kann einwenden, das sei idealistisch. Stimmt. Aber hört der Pastor auf zu predigen, nur weil die Sünder nicht weniger werden? Der Lehrer zu belehren, nur weil die Klasse kifft? Der Sänger zu singen, weil keiner kommt?

Ein frei schwebendes Kraftzentrum zu bilden – das läge nicht nur in der Tradition der säkularen europäischen Intellektuellen, es ist auch eine Bedingung ihres Überlebens als gesellschaftlicher Spezies. Angesichts der Tendenz der Regierenden, den Einspruch gegen die kapitalistisch halbierte Moderne mit bestellten „Ethikräten“ zu neutralisieren, der Versuche der Wirtschaft, den NGOs die Legitimation zu bestreiten, und der Machinationen, die grenzenlose Öffentlichkeit des Internets zu beschneiden, werden die Intellektuellen gezwungen sein, eine neue Öffentlichkeit herzustellen. Als Alternative bleibt ihnen nur, sich mit der Rolle des elegischen Rhapsoden im Damenprogramm der veröffentlichten Meinung, vulgo: Feuilleton, zu begnügen.

Die Aufgabe ist übergroß, ihre Formen sind noch nicht absehbar, und man kann vor ihr verzagen. MATHIAS GREFFRATH