: Eine Suche ohne Spuren
Verdächtige wurden auf Alibis geprüft, Keller und Hinterhöfe durchkämmt. Aber kein Hinweis führt zu der Vermissten
aus Berlin HEIKE HAARHOFF
Der Kottbusser Damm ist eine stark befahrene, vierspurige Straße. Auf dem Mittelstreifen wachsen Büsche und Gestrüpp, alle paar hundert Meter unterbrochen von Straßenkreuzungen. Wie der mit der Bürknerstraße. Eine Fußgängerampel erleichtert das Überqueren, der Eingang zur U-Bahn ist nicht weit. An jeder Ecke ein Geschäft: ein Textilwarenladen, ein griechisches Restaurant, und auf der anderen Seite der Kreuzung, da, wo die Verlängerung der Bürknerstraße schon Böckhstraße heißt, ein Imbiss, ein Sexshop, eine Apotheke. Ein Ort an der Grenze von Neukölln und Kreuzberg, zu jeder Tages- und Nachtzeit belebt. Irgendwo hier muss es passiert sein.
Um 16.40 Uhr am 28. November 2000 ist es am Kottbusser Damm fast dunkel. Sandra Wißmann, zwölf Jahre, ist auf dem Heimweg. Um drei war sie losgegangen, um ein Geschenk zu besorgen. Ein zierliches Mädchen, 1,60 Meter groß, braune Augen, dunkelblonde, schulterlange Haare, die sie zum Zopf geflochten trug. Ja, dieses Kind habe er etwa um 16.40 Uhr gesehen auf dem Kottbusser Damm, Ecke Bürknerstraße, wird ein Passant später gegenüber der Polizei angeben. Ja, kein Zweifel, es müsse dieses Mädchen gewesen sein, von dem seine Eltern sagen, es habe an jenem Tag eine hellblaue, glänzende Jacke getragen, eine schwarze Jeans, Stiefel. Ja, sie sei allein unterwegs gewesen, soweit er sich erinnere, wird der Passant aussagen.
Bis nach Hause in der Böckhstraße hatte Sandra Wißmann es nicht weit. Über die Fußgängerampel, vorbei an dem Imbiss, dem Sexshop, der Apotheke, vorbei an diesem Ort, der zu jeder Tages- und Nachtzeit belebt ist, dann knapp 300 Meter geradeaus, und da steht es schon, ihr Elternhaus, Böckhstraße 40. Angekommen ist sie bis heute nicht. Und mit jedem Tag, der vergeht ohne Hinweis, was nach 16.40 Uhr am vergangenen 28. November geschehen ist, sinken die Chancen, das Mädchen wiederzufinden.
Polizeipräsidium Berlin, 5. Mordkommission, ein Tag im August 2001. Michael Hoffmann, der Kommissionsleiter, bittet ins Büro. Regale, Aktenschränke, klingelnde Telefone. Auf dem Tisch noch die Kaffeetassen von der Morgenbesprechung. Kein Ort für die Presse und ihr Beobachtungsbegehr, sagt Michael Hoffmann: „Hier gibt es wenig zu sehen.“ Nicht, dass die Ermittlungen im Fall Sandra Wißmann eingestellt wären. Ein solcher Zeitpunkt existiert nach dem Gesetz nicht. Eine verschwundene Person bleibt eine verschwundene Person – bis zum Beweis des Gegenteils. „Es gibt Fälle, die werden nach zehn, fünfzehn Jahren geklärt.“ Und andere, deren Akte der zuständige Sachbearbeiter mit sich trägt, bis er in Rente geht und sie einem jüngeren Kollegen überantwortet. Das klingt pessimistischer, als es klingen soll, und deshalb fügt Michael Hoffmann hinzu, dass die Aussicht, Sandra Wißmann wiederzufinden, nicht hoffnungslos ist. Genauer: Sie ist nicht gut, und sie ist nicht schlecht. Sie ist so, sagt Michael Hoffmann, „dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem es keinen Sinn mehr hat, täglich Suchtrupps loszuschicken“.
In der 5. Berliner Mordkommission sind sie zu acht, zuständig für Mord, Totschlag, erpresserischen Menschenraub, Geiselnahmen und für ärztliche Kunstfehler mit tödlichem Ausgang. In der Regel ist jeder Sachbearbeiter mit einem nicht geklärten Fall betraut sowie mit mehreren geklärten, die noch auf ihren Prozess warten und „ebenfalls ziemlich arbeitsintensiv“ sind, sagt Michael Hoffmann. „Da gibt es Fälle, an denen muss man nicht jeden Tag arbeiten.“ Zumal wenn es nichts Neues gibt, wie bei Sandra Wißmann.
„Im Moment“, sagt Michael Hoffmann, „konzentrieren wir uns auf das Überprüfen ähnlich gelagerter Fälle und deren Täter.“ Auf Schreibtischarbeit also. Und auf die Hoffnung, doch noch den entscheidenden Hinweis zu bekommen aus der Öffentlichkeit. Doch die Medien interessieren sich vergleichsweise wenig für die Umstände des Verschwindens von Sandra Wißmann: Es blieb bei Berichten in den Berliner Lokalzeitungen in den Tagen nach dem 28. November 2000.
Als dagegen Anfang Januar die neunjährige Sophia Wendt aus Berlin-Marzahn vier Tage lang von einem Mann in dessen Wohnung eingesperrt wurde, bevor der sie „äußerlich unversehrt“ wieder freiließ, wie die Polizei mitteilte, war die Medienresonanz beachtlich. Und als wiederum sieben Wochen später die zwölfjährige Ulrike Brandt aus dem brandenburgischen Eberswalde entführt, missbraucht und später getötet wurde, dokumentierten Boulevardzeitungen auf ihren Titelseiten tagtäglich Aussagen, sachdienliche wie unsachdienliche, hilfreiche wie hinderliche. Fernsehteams machten der polizeilichen Suche Konkurrenz. Reporter belogen Ulrikes Eltern: Zur Aufklärung des Verbrechens sei es hilfreich, wenn sie öffentlich erklärten „Gebt uns unsere Tochter wieder“, bis die Eltern sich im Interesse von Einschaltquote und Auflage überwanden. Der Ton der Berichterstattung wurde umso schriller, je länger der Täter ungefasst blieb.
Am Ende einer Kurzmeldung
Sandra Wißmanns Eltern wollen auch Öffentlichkeit, sagt Michael Hoffmann. „Aber sie wollen ihr Leid nicht öffentlich zur Schau stellen.“ Deshalb sei er, der Leiter der fünften Mordkommission, mit ihnen übereingekommen, als „Filter“ zwischen Medien und Familie aufzutreten. Einige Medien würdigten diese Übereinkunft auf ihre Art: Als Sandra Wißmanns Eltern und der Berliner Polizeipräsident im Februar – da war das Mädchen schon elf Wochen verschwunden – für Hinweise eine Belohnung von jeweils 10.000 Mark aussetzten, war das den Nachrichtenagenturen einen Satz am Ende einer Kurznachricht wert. Als die Polizei neulich die Suchplakate erneuerte, vermeldete das die Lokalpresse. Ein wissenschaftlicher Nachweis, wonach Straftaten, über die verstärkt berichtet wird, einen höhere Aufklärungschance haben, existiert nicht. Trotzdem gilt: Gerade zum Wiederauffinden Verschwundener sind die Hinweise aus der Bevölkerung oft entscheidend – und gehen auch weitaus häufiger ein als polizeiinterne. Im Fall Sandra Wißmann hält sich das Verhältnis die Waage.
„An uns liegt es nicht“, sagt Michael Hoffmann. Die Polizei mache nicht in einem Fall mehr Medienarbeit als im anderen. Aber, sagt der Kripo-Beamte: „Wenn es eine Häufung vergleichbarer Straftaten innerhalb eines bestimmten Zeitraums gibt, stürzen sich Medien oft auf den letzten Fall.“ Sandra Wißmann hatte, was die öffentliche Aufmerksamkeit angeht, vielleicht das Pech, die erste Verschwundene zu sein. Dazu kommt, dass die Suche von Anfang an sehr schwierig war: Anders als bei Ulrike Brandt aus Eberswalde gab es in Berlin kein Tatfahrzeug, nach dessen Fahrer die Polizei gezielt hätte fragen können. Der Einsatz von Düsenjägern mit Spezialkameras, die im Frühjahr die brandenburgischen Äcker nach Ulrike absuchten, verbot sich in Berlin: „Das können Sie über einer Großstadt nicht machen.“ Ebenso ungeeignet wären Kameras, die auf Infrarot reagieren. In einer Stadt gibt es zu viele Wärmequellen.
Was blieb, war ein Suchbereich, den die Polizei selbst eingrenzen musste: Denn lokalisierbar war einzig der Ort des Verschwindens. „Wir haben also von dort ausgehend einen gedachten Kreis gezogen“, sagt Michael Hoffmann, „und der wurde abgegrast.“ Bis zu 100 Beamtinnen und Beamte zeitgleich durchkämmten daraufhin die Straßen rund um das Wohnhaus der Wißmanns, mit Spürhunden, mehrere Wochen lang. Denn dass Sandra Wißmann nicht freiwillig von zu Hause abgehauen ist, war den Ermittlern ziemlich schnell klar: Zoff mit den Eltern, schlechte Schulnoten, Liebeskummer, das alles wurde ausgeschlossen. Freunde, Verwandte, Bekannte, Nachbarn, alle wurden befragt. Hinweise, ja, zahlreiche, einmal stießen die Polizisten auf Blutflecke, aber die gehörten nicht dem vermissten Kind, einmal meldete sich ein anonymer Anrufer, der angeblich den „Leichenablegeort“ kannte und die Polizei ein Höchstaufgebot an Fahndern mobilisieren ließ. Nichts. Verdächtige wurden auf ihre Alibis überprüft, Speicher, Keller, Hinterhöfe durchsucht. Kein Ort in und um die Böckhstraße, der im Dezember nicht auf den Kopf gestellt worden wäre. Und immer wieder die gleich lautende Frage: Wie kann ein Kind an einer so belebten Straße unbemerkt verschwinden?
Parallelen ziehen und verwerfen
Die Suche vor Ort bringt zwei Erkenntnisse: Sandra Wißmann scheint nicht auffindbar. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie tot ist, ist groß. Parallelen zu Fällen anderer verschwundener Mädchen werden gezogen und wieder verworfen, aktenkundige Sexualstraftäter überprüft. Es gelingt den Berliner Beamten, einen Serienvergewaltiger zu überführen. Nur: Mit Sandra Wißmann hat er offenbar nichts zu tun. „Ganz klar“, sagt Michael Hoffmann, „das ist unbefriedigend.“
Mehr als 900 Kinder unter 14 Jahre sind in der Bundesrepublik laut Statistik der Polizeihochschule Villingen-Schwenningen verschwunden, viele von ihnen seit Jahren. Fünf bis sieben „spektakuläre Tötungsdelikte“ werden jährlich geklärt. Die Mehrheit der Kinder bleibt vermisst.
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