piwik no script img

Für eine orientierungslose Linke

Micha Brumlik sucht in seinen neuen religionsphilosophischen Essays nach Traditionen und Blockaden einer universellen Moral

Können wir seit der Aufklärung eine universelle Moral ohne Gott denken? Lassen sich – insbesondere nach Auschwitz – Menschenrechte und Menschenwürde ohne den Rückbezug auf die jüdisch-christliche Tradition gedanklich fassen? So kann man, etwas vereinfacht, die Leitfragen der pädagogisch-philosophischen Arbeiten von Micha Brumlik beschreiben. In seiner Sammlung religionsphilosophischer Essays aus den letzten 15 Jahren lässt Brumlik die Antworten Revue passieren, die Philosophen und Wissenschaftler auf die Menschheitsfrage nach dem Verhältnis von Vernunft, Offenbarung und Emanzipation gegeben haben.

Behandelt werden in den 14 Beiträgen so unterschiedliche Denker des 20. Jahrhunderts wie Hermann Cohen und Leo Baeck, Ernst Bloch und Herbert Mead, Hannah Arendt und Carl Schmitt. Micha Brumlik ist insgesamt um den Nachweis bemüht, dass „spezifisch jüdische Motive über den Begriff der Offenbarung hinaus, die Auferstehung der Toten, das biblische Bilderverbot, die Idee eines noch ausstehenden Messias, der unbedingten göttlichen Weisung und der Solidarität der menschlichen Generationen einen rationellen Kern enthalten, der auch jenseits konventionell gebundenen Glaubens, wenn schon nicht zu überzeugen, so doch mindestens aufzurütteln vermag“.

Als warnendes Beispiel für eine „politische Christologie“ beschreibt er den Juristen Carl Schmitt. Dass dieser Theoretiker des Ausnahmezustandes ein Antisemit und intellektueller Vertreter des Nationalsozialismus über das Jahr 1945 hinaus war, ist bekannt. Dass er dies jedoch vor allem als politisch denkender Christ gewesen ist, als ein Verfechter der Existenz der „Erbsünde“, dies ist wohl bislang auch zahlreichen Kennern und vor allem den Fans entgangen.

Schmitt glaubte, dass nur in Anerkennung des Umstandes, dass „die Menschen wesentlich sündhaft und einander in Freiheit feindlich“ gesinnt sein müssen, eine Entscheidung für geordnete Verhältnisse möglich sei, also ein autoritäres kulturell homogenisiertes Staatswesen, das dem inneren und äußeren Frieden diene. Die jüdische Tradition (die eben gerade die Vorstellung einer Erbsünde ablehnt) wird von Schmitt in seinen Schriften synonym gebraucht mit der gesetzlichen Garantie individueller Freiheiten und des „Bürgerkriegs“. Brumlik charakterisiert Schmitts Denken deshalb als „theologisch-politischen Antijudaismus“, dessen antisemitische Radikalität auf einer antijüdischen Bibelinterpretation fußt.

Hannah Arendt dagegen wird von Brumlik als „nationalstaatskritische Universalistin“ beschrieben. Sie lasse sich gerade nicht als die jüdische Kronzeugin einer national und damit partikular oder antiuniversalistisch orientierten Totalitarismuskonzeption vereinnahmen, wie dies „Publizisten, ostdeutsche Landesregierungen und ehemals leninistische Neudemokraten“ gegenwärtig gerne versuchten.

Brumlik belegt zunächst, wie umfassend sich Arendt in ihrem Denken auf die jüdische Tradition bezieht. Er zeigt weiter, dass Arendts Hauptwerk über den Totalitarismus eher einen unvollständigen Versuch der NS-Analyse darstellt, der Stalinismus sei darüber hinaus lediglich kursorisch behandelt. Brumlik kritisiert im Folgenden auch Arendts nationaljüdische Setzung, die Juden seien im 19. Jahrhundert ein Volk gewesen. Am Text ihrer Totalitarismusstudie führt er vor, dass ihre Vorstellungen dem Lebenszusammenhang des liberalen, postassimilitaorischen Zionismus entstammen, und verdeutlicht zudem an Arendts Zionismuskritik den Universalismus ihres Denkens. Ihr an einem republikanischen Freiheitsideal orientierter Nationalstaatsbegriff erweise sich, so Brumlik, als das genaue Gegenteil jener an der Vorstellung kultureller Homogenität orientierten Nationalstaatsidee, die eine aktualisierte Totalitarismusdebatte heute bemühe.

Brumlik sucht in seinen Essays gleichzeitig nach Traditionen und Blockaden einer universellen Moral. Seine Tiefenbohrungen nach jüdisch-christlichen Quellen philosophischen und politischen Denkens können als Aufruf zum Nachdenken gelesen werden, gerichtet an eine orientierungslos gewordene Linke, die nach dem Ende des Kommunismus immer öfter Halt in partikularen Identitäten und nationalistischen Orientierungen findet. Angesichts der grassierenden Moralvergessenheit – nicht nur in der Linken – ein höchst akuelles Vorhaben.

Micha Brumlik: „Vernunft und Offenbarung. Religionsphilosophische Versuche“. Philo Verlag, Berlin 2001, 247 Seiten, 44,50 DM (22,80 €)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen